„Die Spirale muss nach oben gehen“

Ein Interview mit Mitgliedern der Berliner Initiative Urbane Praxis

Anna Schäffler, Jochen Becker und Simon Sheikh
im Gespräch mit Ursula Maria Probst.

Künstler*innen, Stadtaktivist*innen, Akteur*innen aus Kultur, Architektur und Soziokultur haben sich 2020 in Berlin auf Initiative des Rates für die Künste zu einem Verbund zusammengeschlossen und erproben in Stadtlaboren und Campusprojekten diverse die Peripherie einbeziehende Kooperations- und Gestaltungsformen stadträumlicher Transformation. Bis dato fanden Raumexperimente, Aktions- und Thinktank-Formate sowie Symposien und Konferenzen statt. Ein für internationale Beiträge offenes Glossar wurde publiziert und elf Thesen zur Untermauerung der Notwendigkeit struktureller Veränderungen erstellt. Folgende Projekte waren 2020 Partner*innen der öffentlich geförderten Initiative Urbane Praxis: Berlin Mondiale mit ihren Knotenpunkten; Stadtwerk MRZN/S27; station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf; Zentrum für Kunst und Urbanistik, Floating University, Haus der Statistik, Baupalast und CoCooN. Neben der Erschließung neuer Flächen stand die Entwicklung eines gemeinsamen Fahrplans für Urbane Praxis auf der Agenda. Eine Roadmap für nachhaltige Förderung und Strukturentwicklung wurde entworfen, der Kulturverwaltung vorgelegt und von dieser abgelehnt. Gegründet wurde nun der Verein für Urbane Praxis. Anna Schäffler, Jochen Becker und Simon Sheikh zählen zu den Initiator*innen. Neben der urbanen Praxis in Berlin wollen sie den internationalen Austausch intensivieren.

Ursula Maria Probst: Euch drei verbinden unterschiedliche Historien. Gemeinsam arbeitet ihr an Formen urbaner Praxis, die Stadt strukturell anders denken und leben lässt.

Jochen Becker: Vor drei Jahren haben wir als nGbK ein Symposium zu urbanen Kulturen in der Berlinischen Galerie veranstaltet. Die von Eva Hertzsch, Adam Page und mir mit anderen organisierte station urbane kulturen in Berlin-Hellersdorf stand dabei in vielerlei Hinsicht Pate. Dieses Symposium sollte Wege aus den Fallen einer in die Jahre gekommenen Praxis von „Kunst im öffentlichen Raum“ weisen. Es war schon damals auch ein Urbane-Praxis-Projekt, doch der Name Urbane Praxis kam erst später, im Jahr 2020. Der Begriff ist aus dem Rat für die Künste heraus entstanden, einer Selbstorganisation aktiver Kulturorganisationen in Berlin. Aus dem Selbstverständnis als Rat entwickelte sich die Forderung, dass all die in den 1990ern begründeten postdisziplinären Aktivitäten endlich eine substanzielle finanzielle und strukturelle Unterstützung benötigen.

Probst: Es gab zunächst Unterstützung durch die Corona-Fördermaßnahmen?

Becker: Von den an Berlin ausgeschütteten Bundesgeldern wurden mehrere Millionen Euro vom Berliner Kultursenat weitergereicht, weil man letztlich unvorbereitet und ohne Konzept war und nicht genau wusste, wohin damit: Hauptsache Kultur im halbwegs infektionssicheren Außenraum. Ein Jahr lang hat der Senat auf die „Draußenstadt“ Geld regnen lassen, sodass auch die aus dem Rat für die Künste entstandene bottom-up Initiative Urbane Praxis ein strukturbildendes Büro eröffnen konnte, neun exemplarische Campusprojekte förderte und ein Diskursprogramm entwickelte – alles für ein Jahr, und danach war es wieder vorbei. Es gab erneut das Angebot an die nGbK, die als Institution beteiligt ist, nochmals einen Kongress zu machen. Die nGbK hat daraufhin mich und ich wiederum habe Licia Soldavini, Anna Schäffler und Simon Sheikh gefragt, ob wir eine diskursive Veranstaltung zu all dem machen. Daraus sind unter dem Rahmentitel Situation Berlin eine Open-Air-Zoom-Veranstaltung, ein Glossar, Workshops hin zu einem Manifest-Aufschlag und die elf Thesen entstanden. Das ist jetzt im Schnelldurchlauf, was bisher geschah.

Urbane Praxis vs. Kunst im öffentlichen Raum

Probst: Wodurch unterscheidet sich urbane Praxis von „Kunst im öffentlichen Raum“?

Anna Schäffler: Das Zentrale an urbaner Praxis ist, dass sie nicht diese klassische Vorstellung von Kunst im öffentlichen Raum propagiert, sondern an der Schnittstelle zu Stadtpolitik und aktivistischer Praxis operiert. Da gibt es viele verschiedene Projekte mit einer teils langjährigen Expertise. Die Initiative Urbane Praxis war der Versuch, das gemeinsam an die Politik und an die Verwaltung zu vermitteln. Da existiert ein Riesenpotenzial einer anderen Form der Stadtentwicklung, die immer wieder mit öffentlichen Geldern finanziert wird, aber stets in dieser Projektlogik gefangen ist. In der Initiative wurden die Kräfte gebündelt, die in der Stadt verteilt sind, um mit einem gemeinsamen Claim der Urbanen Praxis ein Bild und eine Forderung zu schaffen, mit dem Ziel, im Stadthaushalt langfristig eine Finanzierung zu verankern. Das heißt zum Beispiel andere Förderinstrumente zu entwickeln oder eine ressortübergreifende Schnittstelle zu etablieren. Doch mit Blick auf die erste Phase der Initiative würde ich sagen, dass wir leider mit unserem Anspruch an Politik und Verwaltung gescheitert sind. Für mich ist das eine historische Zäsur und markiert das Ende der Nachwendezeit, in der in Berlin über drei Jahrzehnte die einzigartige Möglichkeit einer anderen Stadt bestand.

Probst: Eine verpasste Chance der Stadt, dieses enorme Potenzial zu nutzen und entsprechende Bedingungen zu schaffen.

Schäffler: Zugespitzt formuliert war die Reaktion der Kulturverwaltung: Guter Begriff, „Urbane Praxis“, den nehmen wir und richten einen Projektfonds Urbane Praxis ein, der bekommt zwei Millionen und da kann man sich mit Projektideen bis zu einer bestimmten Summe bewerben. Der Vorgang ist, so wie er gelaufen ist, deshalb problematisch, weil hier aus der Verwaltung heraus in einer Top-down-Logik neue Strukturen erzeugt wurden, die eben genau nicht strukturell langfristige Grundsatzförderungen ermöglichen oder Entscheidungsprozesse anders gestalten. Stattdessen wird der Einzelkampf der Akteur*innen um das kleiner werdende Wasserloch der öffentlichen Projektmittel weiter angeheizt. Das desillusioniert natürlich sehr, wenn so eine gemeinsame Anstrengung auch bundesweit und international wahrgenommen und gefeiert wird – und zu Hause die inhaltlichen Forderungen ignoriert und real verhindert werden. Als politischer Vorgang ist das für Berlin ein absolutes Armutszeugnis. Die Initiative Urbane Praxis steht da nur stellvertretend für unzählige andere Fälle, in denen man das beobachten muss (z. B. die UferHallen). Gleichzeitig hat es den Gruppen in der Stadt eindeutig gezeigt, dass wir weitermachen müssen: an der Vernetzung arbeiten, Haushaltsmittel einfordern und Förderkonzepte entwickeln. Dafür wurde der Verein Urbane Praxis gegründet, der im Nachklapp der Haushaltsverhandlungen dieses Jahr eine 300 000 Euro-Förderung von der Stadtentwicklung erhält. Das ist natürlich erstmal gut, denn wir haben auch keine andere Wahl als weiterzumachen. Aber ich würde sagen, nach der verabschiedeten Hoffnung, dass es in Berlin anders sein könnte, passiert das unter veränderten Vorzeichen. Mein persönlicher neuer Claim ist „Lernen von Hannover“ oder jeder anderen mittelgroßen Stadt, die schon längst kein Versprechen einer „Stadt von unten“ mehr macht.

Probst: Bei „Lernen von Hannover“ handelt es sich also um ein paradoxes Wortspiel, das pointiert artikuliert, dass mit Berlin noch mehr Erwartungen verbunden sind für basisdemokratische Freiräume und Strukturwandel, während es in anderen Städten gar nicht zur Diskussion steht. Vor drei Jahren hat es hoffnungsvoll ausgesehen. Es ist ja immer auch die Herausforderung, im Umgang mit der Stadt eine Sprache zu finden. Gab es da konkrete Ansprechpartner*innen?

Becker: Ja – die erste Konferenz hat eine inhaltlich kompetente Person in der Kulturverwaltung eingefordert, doch die ist dann mit der Konferenz in Pension gegangen. Nun gibt es dafür keine vergleichbare Nachfolge des Verstehens oder eines Minimum an freudigem Engagement. Das hat historisch sehr viel damit zu tun, dass die Verwaltung in Berlin es sich oftmals bequem macht mit der Einstellung: Die engagierten jungen Leute machen das schon. Da ist ja eine so unglaubliche Energie, da müssen wir uns nicht groß kümmern oder gar eigene Kompetenzen aufbauen. Wenn dann allerdings der große Tanker Volksbühne trudelt, heißt es: Oh! Da müssen wir dringend eingreifen. Nach der Art, die können sich ja nicht selbst helfen. Die Initiativen haben Politik und Verwaltung im Grunde verwöhnt, deshalb auch jetzt der Versuch einer Selbstinstitutionalisierung. Allerdings nicht, um einen weiteren Verwaltungskraken zu bauen, sondern es geht uns um eine Verstetigung, eine Verfestigung, ein historisches Bewusstsein, eine Qualifizierung der Verwaltung, eine Diskursproduktion, um andere Formen von Förderstrukturen zu entwickeln; auch um eine Implementierung von Projekten, die langfristig sind und nicht nur im Zentrum stattfinden. All das, was sonst vernachlässigt wird, wie das sozial-räumliche Auseinanderfallen der Stadt – und natürlich auch, um für eine kosmopolitische Perspektive zu kämpfen. Berlin ist seit den 1990er-Jahren massiv internationaler geworden. Es ist keine deutsche Angelegenheit mehr, wie das vielleicht früher schien. Was es ja real eh nie war, aber es schien so. Doch das kann heutzutage niemand mehr behaupten.

 

 

Öffentlichkeit, Kunst, Aktivismus

Probst: Wie definiert sich Urbane Praxis nach außen?

Simon Sheikh: Also in einem strukturellen Sinne kann man sagen, dass diese Form von Urbaner Praxis eigentlich postdisziplinär ist. Man kann nicht genau sagen, ob es Architektur, Urbanismus, aktivistische oder künstlerische Arbeit ist. Oft ist es sehr gemischt, und das ist nicht nur eine Berliner Geschichte, sondern war woanders seit den 1990er-Jahren in vielen Projekten, die voneinander lernen und sich so weiterentwickeln konnten, auch stark da. Aber urbane Praxis war nicht so sehr in einer politischen, theoretischen und kunsthistorischen Szene verankert. Ich finde die Praxisform des Nichtkodifiziert-Seins interessanter als das streng Kodifizierte. Aber für das politische Arbeiten muss man die Praktiken kodifizieren. So etwas haben wir versucht zu machen, im Sinne revolutionärer, aber auch reformistischer und pragmatischer Ideen: Wie kann man sich im öffentlichen Raum selbst institutionalisieren? Das ist ein interessanter Aspekt. Wie lassen sich Praktiken kodifizieren, damit jeder sie vergleichen kann und andere Leute verstehen können, dass diese Praktiken nicht in einer Privatsphäre bleiben, sondern eine Öffentlichkeit haben.

Probst: Welche Art von Öffentlichkeit ist gemeint?

Sheikh: Eine Öffentlichkeit, in der man neue Fragen oder alte Fragen in einer neuen Art stellen kann. Aber in einer Art, in der die Form offen bleibt. Das ist einer der Jobs von Kurator*innen: Wie kann man urbane Praxis in verschiedene Systeme übersetzen, sodass sie offen bleibt? Du als Kurator kannst es entwickeln. Es funktioniert nicht so, dass man sagt: Okay, dieses Element in dieser Kombination ist urbane Praxis. Leider ist das bei „Kunst am Bau“ und „Kunst im öffentlichen Raum“ oft der Fall.

In vielen Ländern wird bei Neubauten ein gewisser Prozentsatz des Budgets für künstlerische Arbeiten zur Verfügung gestellt. Neue öffentliche Formen werden dabei nicht produziert. Urbane Praxis ist viel experimenteller mit Öffentlich-Sein und einer anderen Art und Weise der Kunst- und Designnutzung, die nicht nur einen ästhetischen, sondern einen sozialen Aspekt hat. Deshalb ist es interessant zu schauen: Wie kann in Diskussionen dieses Arbeiten weiter gefördert werden, in anderen Kontexten und anderen Ländern und anderen Städten? Deswegen „Learning from Hannover“. Wien hat natürlich eine ganz andere Politik. Also: Wie kann man an neuen Fragen arbeiten, am Übersetzen, am Modifizieren, ohne dass wir total darauf fixiert sind?

Probst: Was sind die neuen Fragen?

Sheikh: Ich kann hier Bernadette Buckley zitieren. Sie arbeitet mit Kunst, Politik und Aktivismus und sie hat diesen Begriff geprägt: „It is not not art, and not not politic“. In der urbanen Praxis ist es eigentlich nicht wichtig, ob es wirklich Kunst ist. Ist es Politik? Ist es Sozialarbeit? Diese Form der Aktivität muss nicht aufgedröselt werden. Es ist nur eine gesellschaftliche Idee, dass man alles zuordnen muss. Wenn wir nicht mehr diskutieren müssen, ob es Kunst ist oder Architektur, dann kann es urbane Praxis sein. Das sagt nichts über die Form der Praxis aus. Viel wichtiger ist: Welche Ideen von Zukunft, welche Ideen von Tradition gibt es? Dieser Ansatz ist ganz anders als in den meisten politischen Kunstsystemen. Bei „Kunst am Bau“ entsteht zuerst der Plan des Gebäudes und erst später etwas Künstlerisches. Sieht schön aus, aber es entstehen keine neuen Impulse für Formen und niemand beschäftigt sich damit, wie die Bottom-up-Idee mit der Praxis von Leuten, die in den Städten leben, funktionieren könnte. Also das ist nicht nur eine Frage von Repräsentation, sondern eine Frage, welche soziale Form die Leute in der Stadt praktizieren. Wie kann man das in eine Kulturproduktion mitnehmen?

Probst: Ihr seht Urbane Praxis als Bewegung?

Becker: Urbane Praxis kommt aus einer Praxis, und diese versucht sich hierdurch selbst zu definieren. Zum Beispiel das Haus der Statistik: Das ist zunächst einmal ein ganzer Gebäudeblock im Zentrum von Berlin, am Alexanderplatz, als einem von zwei wirklich zentralen Orten von Berlin. Es kommt aus einer Flüchtlinge unterstützenden sowie kulturellen Praxis und hat zum Beispiel ein kosmopolitisches Kino beherbergt. Da sind extrem interessante neue Formen von kultureller Praxis, etwa ein Materialdepot, wo Dinge für kulturelle Tätigkeiten recycelt werden können. Jetzt wird das Haus der Statistik zu einem Komplex aus Wohnen, Verwaltung sowie Kultur und Soziales ausgebaut, wo alle möglichen Akteur*innen der Stadt sich über Jahre hinweg verständigen müssen. Das sind große exemplarische Prozesse, bei denen man merkt, dass langsam die Kommune und auch der Bund anerkennen, was das für eine Power hat. Aber das gilt weiterhin als Einzelprojekt und wird nicht als Bewegung gesehen. Urbane Praxis hingegen ist eine Bewegung. 

Probst: Was ist der Unterschied zu üblichen Praktiken?

Becker: Die Unterschiede – ich sage das ganz vorsichtig – zu traditionellerer Kunst sind: Bei Projekten für „Kunst im öffentlichen Raum“ werden Künstler*innen eingeladen, dann lösen sie ein Problem oder finden ein Problem, machen eine Veranstaltung, ein Objekt, eine Situation, die vielleicht bleibt. Aber heutzutage ist ja der Fetisch, es möglichst nicht bleiben zu lassen, es temporär zu machen. Das hat große Fehler produziert.

Im Gegensatz dazu sagt Urbane Praxis: Wir sind Stadt, wir verschwinden nicht, wir sind in den Dynamiken einer Stadtentwicklung dauerhaft präsent und entwickeln daraus zudem eine ästhetische, urbanistische, aktivistisch geprägte Praxis. Diese artikuliert sich in Strukturen, in Objekten, in Festen, in allen möglichen Situationen und Institutionen, aber idealerweise nicht nur im Zentrum und idealerweise nicht nur für ein flottes Festival-Feuerwerk. Da lernen wir von der grandiosen mietpolitischen Bewegung und anderen lokalen Auseinandersetzungen, von den Selbstorganisationsstrukturen etwa der Initiative Haben & Brauchen, die eine enorme Theorie- und Wissensproduktion, aber auch kulturpolitische Weichenstellungen losgetreten hat.

 

Strukturen statt Projekte

Probst: Worin liegt die Problematik? In Projekten, die in Wien noch immer unter „Kunst im öffentlichen Raum“ laufen, werden temporäre Projekte wegen restriktiver Verwaltungs- und Behördenabläufe eingesetzt, um überhaupt Projekte realisieren zu können.

Becker: In Hellersdorf, wo wir aus der Praxis mit der station urbane kulturen viel gelernt haben, ist die Mehrheitsbevölkerung ohnehin „auf Projekt“, also von Förder- oder Stadtreparaturmaßnahmen abhängig. Das sind alles kurzfristige Maßnahmen ohne Sicherheiten. Wir leben gerade in einer totalen Projektewelt, doch es gibt keine Garantien mehr. Der Neoliberalismus hält uns darin gefangen. Das kommt – auch – aus der künstlerischen Praxis. Wir haben alle angebissen und merken jetzt: Das sind keine strukturbildenden Maßnahmen. Du hast keine Rechte. Du hast keine Garantien.

In Hellersdorf kämpfen die Leute um das erste Freibad, in einem Bezirk mit über 85 000 Menschen. Das ist beschämend in Berlin, in Deutschland, einem der reichsten Länder. Diese Nachlässigkeit potenziert sich nochmals kulturell: nachvollziehbar, aber nicht richtig, weil soziale Probleme in diesen Bezirken dominant sind. Doch die löst du nicht allein dadurch, indem du andere Dinge des Lebens wegstreichst.

Probst: Es geht also auch darum, Verwaltungs- und Entscheidungsprozesse zu verändern?

Schäffler: Urbane Praxis ist post- oder nondisziplinär. Sie ist etwas, das sich nicht als Konkretes definieren lässt, was allerdings wiederum auf eine Realität trifft, die ein Ressortdenken hat. Es ist natürlich ein Ziel, Verwaltungs- und Entscheidungsprozesse zu verändern. Und das ist deshalb wichtig, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt, als die künftige Stadt gemeinsam und verbindend anzugehen. Wir müssen das dringend ändern. Und da kommt natürlich die Angst vor Machtverlust oder Deutungshoheit ins Spiel, und das verhindert dann oftmals, neue Government-Modelle zu erproben oder umzusetzen.

Probst: Was habt ihr in der Praxis für Modelle erprobt?

Schäffler: Die nGbK ist zum Beispiel ein basisdemokratischer Kunstverein, der es schafft, sich seit fünfzig Jahren ständig zu erneuern, und in dessen Programm sich die gesellschaftspolitisch relevanten Themen widerspiegeln. Andere Initiativen wie das Haus der Statistik arbeiten in einem genossenschaftlichen Zusammenhang; Modelle wie Erbpacht werden erprobt. An der Schnittstelle zu Verwaltung und Politik ließen sich natürlich noch viele neue Formate denken.

Probst: Wie wird auf die Veränderungen im Stadtleben reagiert?

Sheikh: Die Frage ist, wie Menschen in den Städten heute leben und funktionieren. Unsere Lebensbedingungen haben sich durch den Neoliberalismus, durch die Digitalisierung, die Migrationsfrage gegenüber alten Ideen von Öffentlichkeit, Politik, Förderung und Ressort total verändert. Es ist alles erodiert. Das einzige, was sich nicht geändert hat, sind die Bedingungen der Politik. Politiker*innen denken noch immer in modernistischen, wohlfahrtsstaatlichen Nachkriegshorizonten und verstehen die gegenwärtigen Erfordernisse nicht. Ihre Formen und Inhalte sind eigentlich nicht kontemporär. Das ist ein strukturelles Problem. Ja, wir gründeten einen Verein, weil es nicht anders geht. Wenn man Anerkennung und Sichtbarkeit sucht, dann kann man versuchen, diese Formen mehr basisdemokratisch zu gestalten, aber man kann nicht informell bleiben. Man muss es in die historischen Formen bringen, zu denen alle Zugang haben.

Probst: Was unterscheidet urbane Praxis von sozialer Praxis?

Becker: Dass sie anders auf Dinge schaut, weil sie einer Logik des Künstlerischen, Gestalterischen folgt, aber auch andere Formen von Kollegialität und Aushandlungsprozessen schon über Jahre und Jahrzehnte eingeübt hat. Die nGbK ist seit Jahrzehnten eine der wenigen Institutionen, die das formalisiert hat – und das müsste eigentlich noch viel häufiger passieren. Wenn es nicht formalisiert wird, nehmen die Burn-outs, die Erschöpfungen, die Überforderungen, die Unterbezahlungen, die Alleingelassen-fühlen-Situationen, das Unausgesprochene, das Missverstehen in nichtstrukturierten Settings rasend zu. Gerade wenn es anstrengend und viel wird, steigen Leute aus oder verbrennen, haben keinen Bock oder führen sich wie Paschas auf.

Probst: Es braucht eine gemeinsame Basis.

Becker: Es ist wichtig, dass man Übersetzungsleistung macht, die jenseits von Sprache liegt. Wie verstehen wir uns untereinander? Wie kommunizieren wir miteinander in postbabylonischen Zeiten? Wie kommen wir mit offenen Konflikten klar und wie verhandeln wir sie in sehr diversen Situationen, die eine Großstadt des 21. Jahrhunderts vermehrt bietet? Leisten das die Schulen noch? Wo haben wir noch eine Basis, wo wir zusammenkommen – „Zusammen in Widersprüchen“, wie wir die 11 Thesen der urbanen Praxis überschrieben haben? Sind das die öffentlichen Räume oder ist es die urbane kulturelle Praxis?

Probst: Euer Glossar liefert dafür Key-Words und Anregungen.

Schäffler: Das Glossar haben wir gemacht, weil es uns immer auch um diese Übersetzung und Vermittlung geht und letztlich auch um ein besseres gegenseitiges Verstehen: Wer spricht eigentlich wie? Und was verstehen wir jeweils unter einzelnen Begriffen? Zum Beispiel Partizipation kann von einer Verwaltungsmitarbeiter*in gänzlich anders gedacht werden als von einer aktivistisch motivierten Künstler*in, die das schon oft als Feigenblatt in öffentlichen Prozessen erlebt hat. Das sieht man ja auch am Begriff Urbane Praxis selbst, wie ich das vorhin schon erläutert habe, dass wir das nicht als Beschreibung von Projekten an der frischen Luft, sondern als langfristige, strukturelle und gesellschaftspolitische Praxis verstehen. Und dann geht es darum, Rahmenbedingungen für die Dinge zu schaffen, von denen man nicht genau weiß, was passieren wird. Es ist ein Vertrauensvorschuss, ohne dass man in Vorhinein festlegt, was da passieren muss. Trotz temporärer Wandelbarkeit braucht es Grundbedingungen, damit solche Prozesse, die keiner kommerziellen Logik unterliegen, überhaupt stattfinden können.

Probst: Es geht auch stark um das Einbeziehen der Peripherie.

Becker: Zum Beispiel Rom: Dort soll ein strukturbildendes Museum der Peripherie in einer der verrufensten Gegenden der Stadt entstehen [siehe dazu dérive, H. 86: 12–16]. In einer Veranstaltungsreihe dazu wurde gemeinsam mit dem dortigen Goethe-Institut unser Glossar weiterentwickelt. Wir werden demnächst viele neue Beiträge aus Rom bekommen, wo urbane Praxis mit einer anderen Methodik diskutiert wurde. Es zieht interessante Kreise und wirft die Frage auf, ob wir noch ein Berliner Verein sind oder besser mit offenen Strukturen Netzwerke ausbauen und an andere Projekte andocken. Endet es an der Berliner Stadtgrenze?

In Wien gibt es interessante vergleichbare Projekte, die anderswo ihre Limitierung haben. Wien ist ja nicht so die Bottom-up-aktivistische Stadt, für die Berlin oder Hamburg zu stehen scheinen. Hier gibt es andere Formen von Mehltau des Verwalterischen, was lähmende Auswirkungen hat. Wie können wir gegen diesen Mehltau angehen. 

Probst: Obwohl Projekte funktionieren, werden sie kaltgestellt.

Schäffler: Die Floating University steht wie ein Raumschiff aus der Zukunft direkt neben dem heiß umkämpften Tempelhofer Flughafengebäude und macht ein unglaublich wichtiges Programm. Trotzdem steht sie jedes Jahr wieder vor dem Aus. Wie Amelie Deuflhard bei unserem Symposium im November 2021 gesagt hat, auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Zwischennutzung im Palast der Republik Anfang der 2000er-Jahre: „Sobald etwas funktioniert in Berlin, kommen die Bagger.“

 

Autonomie und Abhängigkeit

Probst: Wie gelingt es, autonom zu bleiben?

Schäffler: Was die Autonomie anbelangt: Sobald du öffentliche Gelder annimmst, hast du eine Abhängigkeit, das ist schon in den Modellprojekten mit drinnen. Wenn die zivilgesellschaftliche Seite vom Bezirksamt finanziert ist, dann hat das natürlich einen gewissen befriedigenden Aspekt.

Sheikh: Die Idee mit Projekten und einem Fonds beinhaltet nicht nur, dass man abhängig wird, sondern fördert die Prekarisierung und den Wettbewerb. Dann können wir nicht solidarisch sein, denn wir müssen uns alle bewerben. Dann kommt das aesthetic judgement: Spezialist*innen sitzen da und sagen: Das hier ist ein gutes Projekt, das hier ist eine tolle künstlerische und soziale Praxis. Es gibt diese Tradition in der Kunstwelt: Jemand hat die Expertise, vielleicht Leute wie wir. Das ist im Prinzip elitär. Diese Vorgangsweise ist sehr merkwürdig, wenn es ein elitäres Modell für ein Projekt gibt, das im Prinzip basisdemokratisch ist oder von einer sozialen Einrichtung stammt. Trotzdem wird es von diesen ganz elitären Formen von Selektion evaluiert.

Probst: Wie lässt sich Autonomie anders denken?

Sheikh: Elitäre Auswahlverfahren sind ein großes strukturelles Problem und ein Verlust von Autonomie. Man muss Autonomie anders denken. Das heißt nicht, dass man außerhalb der Institutionalisierung bleibt. Aber es heißt, dass man sich immer dessen bewusst ist, wie man sich selbst institutionalisiert. Autonomie ist für mich – das kommt aus einer spezifischen Tradition Cornelius Castoriadisʼ – das Bewusstsein, dass ich es neu definiere. Es gibt die Möglichkeit des Boykotts, indem ich sage, ich will keine Finanzierung durch bestimmte Staatsformen. Doch es gibt auch die Möglichkeit zu sagen: Ja, wir machen mit, aber unter unseren Prämissen, und wir nehmen selbst die Definition einer Community vor und akzeptieren nicht das, was vom Staat gegeben ist.

Schäffler: Trotzdem brauchen wir diese Schnittstellen zur Stadtentwicklung und anderen Modellen. Wo kann überhaupt Gemeinschaft entstehen?

Becker: Oder Stadtaktivismus – also der Kampf gegen Gentrifizierung, der jetzt definitiv die Miet- und Wohnungspolitik überspringen und Commons (Grünflächen, Verkehrsflächen, Wasserflächen etc.), aber auch Gewerbe inkludieren muss. Was ist Gemeinwohl? Hier in der Stadt ist es mehr als das reine Wohnen – und bisher war der Fokus Wohnen sehr dominant. Die Situation muss nochmals erweitert betrachtet werden, weil die Verengungen auf ganz anderen Ebenen massiv stattfinden. Die nGbK ist gewerbemietenmäßig weggentrifiziert worden. Das ist eine spekulative Stadtentwicklung, die gerade durch Tetrapack-Erben oder Karstadt-Besitzer stattfindet. Das sind Kräfte, bei denen ich einfach nur sagen kann: Liebe Stadt, macht euch lieber mit uns gemein und nicht mit Karstadt, Deutsche Wohnen, Google, Amazon, Siemens oder Tetrapack. Man hat nicht das Gefühl, dass die Politik aufwacht und merkt, dass man Stadtentwicklung und Gemeinwohlpraxis von dieser Seite her enteignen lässt. Grundsätzlich gibt es ein diffuses Bewusstsein, dass man da was ändern müsste, aber man paktiert lieber mit den oben genannten Firmen.

Probst: Es stellt sich die Frage: Wer sind die Akteur*innen, die da aktivistisch aktiv sind?

Schäffler: Wenn man selbstkritisch ist, erkennt man, dass es eine bestimmte Schicht von Leuten ist, die es sich leisten kann, die eine gewisse Haltung hat, sodass sie denkt, sie kann Forderungen stellen. Wenn man sich die Projekte anschaut, sind es oft ähnliche Typen. Sie machen ein sogenanntes niedrigschwelliges Programm für die Nachbarschaft oder geflüchtete Menschen, die vielleicht gar nicht in der Position sind zu sagen, wir claimen hier einen Raum, weil es erstmal um Gesundheitsversorgung oder ganz andere Dinge geht. Also wer ist da eigentlich aktiv in solchen Prozessen?

Probst: Eine Solidarisierung der Entrechteten?

Becker: Die Geschichte zeigt, dass nicht die total Entrechteten Revolutionen angezettelt haben. Das waren immer Leute, die gewisse andere Ressourcen hatten. Dieses Blame and Shame in der aktiven Praxis ist zu einem gewissen Grad wohlfeile Selbstkasteiung. Die Frage ist der Umgang damit: Wie gehen wir mit diesen Privilegien um? Sahnen wir sie einfach nur ab?

Probst: Was steht jetzt an? Was sind die Pläne?

Schäffler: Die Initiative besteht im neugegründeten Verein Urbane Praxis fort und ist offen für weitere Akteur*innen auch außerhalb Berlins. Die internationale Vernetzung ist ein Ziel. Natürlich ist politische Lobbyarbeit weiterhin wichtig und die Entwicklung des Konzepts einer anderen Förderpolitik mit Blick auf die Haushaltsverhandlungen nächstes Jahr. Ein wichtiger Punkt ist auch der weitere Wissenstransfer und die Erprobung neuer Formate zur Weitergabe dieser Praxis, die ja oft sehr implizit ist. Ansonsten sind alle im Überlebensmodus, nach wie vor, das ist einfach so.

Sheikh: Wenn Urbane Praxis Beiträge zur Theoriebildung und politischen Arbeit braucht, bin ich natürlich dabei. Es könnte sehr interessant sein, wenn noch mehr Konferenzen in anderen Ländern und Städten stattfinden. Im Prinzip ist das Glossar nicht fertig. Es gibt ein Buch und es gibt eine Website, doch es könnte natürlich im Prinzip auch mit neuen Beiträgen aus zum Beispiel Sao Paulo weitergehen und sich weiterentwickeln, wo wir auch mit Graziela Kunsch gearbeitet haben.

Becker: Gegenseitig immer das Beste der anderen einfordern. Die Spirale muss nach oben gehen.

 

 

 

 

Erstveröffentlichung in: dérive. Zeitschrift für Stadtforschung, H. 89, 2022, S. 49-54. www.derive.at
Mit freundlicher Genehmigung der Gesprächspartner:innen.
Die angesprochenen „11 Thesen auf dem Weg zu einem Manifest der Urbanen Praxis“ können hier nachgelesen werden: https://ngbk.de/de/11-thesen-auf-dem-weg-zu-einem-manifest-der-urbanen-praxis
Ein PDF des Glossar Urbane Praxis steht hier als Download zur Verfügung: https://urbanepraxis.berlin/wp-content/uploads/2021/11/UP_Glossar_dt.pdf
Weitere Informationen: www.urbanepraxis.berlin