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Willkommen zur 13. Ausgabe des e-Journals
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MAP #13
Urbane Praxis und kulturelle Infra-Strukturen

 

Urbane Praxis ist inzwischen zu einem wichtigen Stichwort geworden, das eine mehrfach kodierte Schnittstelle markiert: zwischen künstlerischen Arbeiten und Interventionen in den städtischen Raum, zwischen stadtplanerischen Arbeits- und Gestaltungsweisen und Verfahren der Raumerkundung bzw. experimenteller Raumpraktiken.

Im Juni letzten Jahres haben wir im Rahmen unseres gemeinsamen Forschungsprojektes Architektur und Raum für die Aufführungskünste eine Tagung unter dem Titel dieser Ausgabe veranstaltet. Mit Expert:innen aus den verschiedenen Feldern haben wir das Verhältnis von künstlerischer, forschender und planender Praxis in Vorträgen und Gesprächen untersucht. Wir sehen dieses Feld in enger Verbindung und als kontextuelle Rahmung unseres aktuellen Forschungsschwerpunktes: wir erweitern den Blick über die monokünstlerisch ausgerichteten Häuser hinaus und untersuchen Orte und Häuser interdisziplinärer künstlerisch-kultureller Nutzungen, deren Zugänglichkeit und Platzierung, ihre Programmierung und experimentierenden Szenografien.

Fragen, die wir für die Tagung formuliert haben, strukturieren in verschiedener Hinsicht auch die Beiträge dieser Ausgabe:

  • Wir setzen künstlerische und kulturelle Initiativen Impulse für stadtverändernde Entwicklungen?
  • In welchem Verhältnis stehen die Aneignung durch selbstorganisierte Akteur:innen und partizipative Formate der Stadtentwicklung und -planung?
  • Wie lassen sich Transformations- und Umbauprozesse von brachliegendem oder neu zu programmierendem Bestand beschreiben? Welche Rolle spielt zukünftige kulturelle oder künstlerische Nutzung?
  • Wie werden unterschiedliche historische Schichten urbaner Räume sichtbar und Erinnern aktiviert?

Die Beiträge greifen manche dieser Fragen explizit auf, beschreiben Entwicklungen und Aktivitäten, die exemplarische Antworten versuchen/versucht haben oder differenzieren die Fragen durch detaillierte Beobachtungen.

Die Ausgabe ist in vier Abschnitte gegliedert.

I.

Der erste Abschnitt Infra-Strukturen: Untersuchen, Bewegen, Überschreiben wird durch einen Beitrag von Barbara Büscher eröffnet, die die aktuelle Relevanz des Begriffs Infrastruktur in Diskursen unterschiedlicher Kontexte und in verschiedenen Ausstellungen und künstlerischen Arbeiten aufgreift und sie ein Stück weit rekonstruiert, um dann Aspekte eines Verständnisses von Infra-Strukturen herauszuarbeiten, dass sich durch die Digitalisierung einerseits und Initiativen der Selbstorganisation und -verwaltung anderseits verändert hat. Infra-Stukturen, verstanden als ständig in Veränderung und Bewegung befindliche Konstellationen, bilden auch den Hintergrund des künstlerischen Forschungsprojektes, das Wolf Gutjahr konzipiert und initiiert hat. ZEIT-Fugen/inbetweens untersucht und visualisiert exemplarisch, wie sich die Platzierung von Theaterbauten im urbanen Raum über die Jahrhunderte verändert haben. Inwiefern diese räumlichen Verschiebungen etwas über die Platzierung des Theaters in der Gesellschaft aussagen können – ist eine der durch das Projekt angestoßenen Fragen. Eine völlig andere Perspektive auf (notwendige) Verschiebungen von kulturellen Infra-Strukturen im städtischen Raum nimmt der Beitrag von Kathrin Wildner auf. Die von ihr initiierte metroZones Schule für städtisches Handeln beschreibt ein Modellprojekt, in dem Formen der aktivistischen Intervention mit Methoden der Stadtforschung verbunden werden, um zu diskutieren und zu erproben, wie Stadtgesellschaft aktiv gestaltet werden kann. Die beiden folgenden Beiträge befassen sich in unterschiedlicher Form mit der robotron-Kantine Dresden, ihrem Erhalt, ihrer Aneignung, Bespielung und Perspektivierung. Marco Dziallas, Akteur der Plattform ostmodern.org, skizziert sowohl die Architektur der Kantine als auch ihre wechselvollen Entwicklungen – von der Top-down-Stadtplanung mit beabsichtigtem Abbruch über die Eigentümerwechsel und verschiedenen kommunalpolitischen Positionen – bis hin zu kulturellen Nutzungskonzepten, für die Ausstellungsprojekte wie etwa die Ostrale – Biennale für zeitgenössische Kunst Markierungen setzen. Der Fotograf Louis Volkmann unternahm Anfang 2023 fotografische Erkundungen zur robotron-Kantine. Es entstand eine Serie, die Raum, Architektur, Park und Stadt zeigen und zugleich die Spuren ihrer Entwicklungen wie Verlassenheit des Areals, Abbruch der Nachbarbauten, jüngste Umnutzungen und bevorstehende Transformationen. Wir zeigen eine Auswahl seiner Fotografien.

II.

Der zweite Abschnitt Urbane Praxis: Stadtplanung verändern, Räume aneignen, neu strukturieren beginnt mit drei verschieden akzentuierten Beiträgen zur urbanen Praxis in Berlin und insbesondere zum Haus der Statistik. Mit Blick nach Chemnitz werden in zwei Gesprächen Formate prozessualer Stadtentwicklung im Verhältnis zu Leitideen der Kulturhauptstadt 2025 diskutiert. In dem Gespräch „Die Spirale muss nach oben gehen“, das wir hier wieder veröffentlichen, erläutern Anna Schäffler, Jochen Becker und Simon Sheikh als Initiator:innen der Berliner Initiative Urbane Praxis, den Begriff, die Praxisformen von Stadtlaboren und Campusprojekten und die damit verbundenen zukünftigen politischen Optionen und Thesen, zur Untermauerung notwendiger, struktureller Veränderungen. Der Urbanen Praxis am Beispiel des Modellprojekts Haus der Statistik in Berlin widmen sich zwei unterschiedliche Beiträge: Leona Lynen beschreibt Ko-Produktion, Pioniernutzungen, Public-Civic-Partnership als den methodischen Ansatz, mit dem das Areal und Haus nach zehn Jahren Leerstand gemeinwohlorientiert entwickelt wird. Urbane Praxis wird als gemeinsame Arbeit von Zivilgesellschaft und öffentlicher Hand, als Hinterfragung von Zuständigkeiten und Abgrenzungen verstanden. Mit ihrem Dokumentarfilm ALLESANDERSPLATZ beobachtete Isis Rampf diese Aktivitäten kollektiver Stadtentwicklung und begleitete den Prozess der Transformation von 2019 bis 2020, in dem sie exemplarisch die im Haus der Statistik erprobten, sogenannten Pionier:innennutzungen darstellte. Für ihren Beitrag in dieser Ausgabe hat sie Bilder und Stimmen aus dem Film mit konzeptionellen Überlegungen zu einer Collage zusammengeführt. Für das Chemnitzer Quartier Sonnenberg und die Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 werden die Wechselwirkungen von Kunst- und Kulturorten und prozessualer, partizipativer Stadtentwicklung in zwei aufeinander bezogenen Beiträgen befragt, für die Annette Menting Gespräche führte und sie durch thematische Kontexte ergänzte. Im ersten Teil, dem Gespräch mit Mandy Knospe, Kulturakteurin der freien Szene, liegt der Schwerpunkt auf der Initiierung neuer Kunst-Räume im Quartier und auf Kunst-Programmen im öffentlichen Raum wie Dialogfelder, die eine neue Wahrnehmung und Entwicklung des Ortes unterstützen. Im zweiten Teil fokussiert das Gespräch mit Grit Stillger, Abteilungsleiterin Stadterneuerung des Stadtplanungsamtes, auf die konzeptionell-räumlichen Quartierentwicklungen von Sonnenberg und die spezifischen Transformationsprozesse des Kreativhofs Stadtwirtschaft, der als Interventionsort der Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 zugleich ein erstes Beispiel veränderter Urbaner Praxis in der Stadt darstellt.

III.

Im dritten Teil werden Urbane Interventionen: künstlerische Projekte und Experimente vorgestellt. Es sind Projekte, die den Blick und die Praxis in verschiedener Hinsicht erweitern: von den urbanen Zentren und Großstädten an die Peripherie, von der Konzentration auf Beispiele und Fallstudien aus Deutschland auf Europa und schließlich nach Brasilien, von aktuellen Initiativen und Projekten in die Geschichte der 1960er-Jahre und nach Tokyo. Adam Page stellt die Arbeit der station urbaner kulturen dar, die sich seit 2014 als ein Projekt der nGbK (neue Gesellschaft für bildende Kunst) in Berlin-Hellersdorf entwickelt hat, einem Bezirk an der Peripherie von Berlin, dessen Geschichte nach 1989 von Fragen nach sozialer Stadtentwicklung, deren kultureller Infrastruktur und gesamtstädtischen Entwicklungen durchzogen ist. Die dort stattfindenden Ausstellungen und Veranstaltungen verhandeln diese Themen und sind geprägt durch künstlerische Praxis in Beteiligungsformaten: Sie wirken in das Quartier hinein und erzeugen neue öffentliche Räume. Barbara Holub und Paul Rajakovics arbeiten als transparadiso von Wien aus seit vielen Jahren an und mit künstlerischen und urbanen Praktiken, die sie als direkten Urbanismus bezeichnen. Für Chemnitz – Kulturhauptstadt Europas 2025 hat Barbara Holub basierend auf dessen Prinzipien in Verbindung mit von ihr als ‚stiller Aktivismus‘ definierten Interventionen das Projekt WE PARAPOM! entwickelt. Im Gespräch mit Barbara Büscher erläutert sie die wesentlichen Aspekte dieser beiden Prinzipien an der Verbindung von kuratierten künstlerischen Interventionen und Prozessen mit ökologisch orientierten und die Anwohner:innen einbeziehenden gemeinsamen Aktionen. Martina Baum und Markus Vogl beleuchten in ihrem Beitrag den Begriff der Polyvalenz im Kontext von Architektur und Städtebau und stellen das Repertoire der polyvalenten Elemente vor, die eine Basis für Identifikation und Interaktion zwischen Mensch und Raum sind. Sie berichten über eine darauf basierende entwerferische Auseinandersetzung, zu der sie im Rahmen der 12. Bienal Internacional de Arquitetura in São Paulo eingeladen hatten und in deren Rahmen räumliche Interventionen für den Praça da República mit diesem Repertoire entworfen und realisiert wurden. Ulrike Krautheim stellt die Aktivitäten der Performance-Gruppe Zero Jigen (Zero Dimension) dar, einer der radikalsten Formationen der japanischen Happening- und Performance-Szene der 1960er-Jahre, zu deren Arbeiten bisher im westlichen Forschungskontext kaum geforscht wurde. Sie zeigt, dass ihre urbanen Interventionen in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre auf die Konfrontation der (in vielen Fällen nackten) Körper der Performer:innen mit dem in einem rasanten Transformationsprozess befindlichen Stadtraum abzielen. Das verändert sich im Vorfeld der 1970 stattfindenden Osaka Expo – ihre Aktivitäten nehmen zunehmend einen explizit politischen Charakter an.

IV.

Der vierte Teil Erinnern als urbane Praxis: Geschichte aneignen, Öffentlichkeit gestalten wurde sowohl für die Tagung wie für diese Ausgabe von Verena Elisabet Eitel und Nadine Kesting Jiménez kuratiert und eingeleitet. Erinnern als kulturelle Aktivität ist für die Konstruktion von Stadt, ihrer Identität wie auch die ihrer Bewohner:innen von zentraler Bedeutung. Das ist der Ausgangspunkt dieses Schwerpunktes: Es geht um Prozesse, die Geschichte erzählen, hinterfragen und im Stadtraum präsent macht wollen. Die vier Autor:innen Marie-Charlott Schube, Pablo Santacana López, Julia Kurz und Marianna Liosi formulieren verschiedene künstlerische und wissenschaftliche Perspektiven und diskutieren Projekte zum Themenfeld. Marie-Charlotte Schube befragt den Wiederaufbau von Theatern nach 1945 am Beispiel des Nationaltheaters München als historischen Aneignungsprozess ruinierter urbaner Räume. Praktiken der Aushandlung um das Theater als gesellschaftlicher Ort und als Teil städtischer Öffentlichkeit stehen im Zentrum. Erinnern als kritische urbane Praxis bezieht Pablo Santacana López auf Formen des Reenactments historischer Ereignisse an Originalschauplätzen und Gedenkstätten. Am Beispiel von Jeremy Dellers The Battle of Orgreave (2001) geht es um das Potenzial verkörperlichter Formen des Erinnerns, um über das Erfahren hinaus Geschichte neu „verhandeln“ zu können („doing history“). Julia Kurz wendet sich anhand künstlerisch-kuratorischer Kooperationen mit dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig dem Ausstellen von (Stadt)Geschichte zu. Sie verweist auf die Verantwortung der musealen Institution, die als Ort von Archiven, Sammlungen und der Zugänglichkeit von Wissen daran beteiligt ist, wie öffentlicher Raum strukturiert, gestaltet und gelesen wird. Wie Formen des Gedenkens im städtischen wie im digitalen Raum stattfinden und diese in Wechselbeziehung zwischen online und offline Sphäre treten, untersucht schließlich Marianna Liosi an der Initiative 19. Februar Hanau, die nach den rassistischen Anschlägen im Februar 2020 in Hanau gegründet wurde. Die sich im Digitalen ereignenden Formen des Gedenkens werden wiederum als eine urbane und potentiell aktivistische Praxis befragt.

 

Herausgeberinnen:
Barbara Büscher & Annette Menting; Teil 4: Verena E. Eitel & Nadine Kesting Jiménez

Redaktion dieser Ausgabe:
Barbara Büscher, Annette Menting, Verena Elisabet Eitel, René Damm

 

Oktober 2023
ISSN 2191-0901

 

Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Unterstützung
dieser Ausgabe.

 

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