II. URBANE PRAXIS: Stadtplanung verändern, Räume aneignen, neu strukturieren

„Die Spirale muss nach oben gehen“

Anna Schäffler, Jochen Becker und Simon Sheikh im Gespräch mit Ursula Maria Probst.
Künstler*innen, Stadtaktivist*innen, Akteur*innen aus Kultur, Architektur und Soziokultur haben sich 2020 in Berlin auf Initiative des Rates für die Künstezu einem Verbund zusammengeschlossen und erproben in Stadtlaboren und Campusprojekten diverse die Peripherie einbeziehende Kooperations-und Gestaltungsformen stadträumlicher Transformation. Bis dato fanden Raumexperimente, Aktions-und Thinktank-Formate sowie Symposien und Konferenzen statt. Ein für internationale Beiträge offenes Glossar wurde publiziert und elf Thesen zur Untermauerung der Notwendigkeit struktureller Veränderungen erstellt. Gegründet wurde der Verein für Urbane Praxis. Anna Schäffler, Jochen Becker und Simon Sheikh zählen zu den Initiator*innen. Im Gespräch stellen sie die Arbeit und ihre Projekte vor.

Ko-Produktion, Pioniernutzungen, Public-Civic-Partnership als Ansatz Urbaner Praxis

Leona Lynen (Berlin)
Nach über zehn Jahren Leerstand wird das Areal Haus der Statistik in Berlin gemeinwohlorientiert entwickelt – gemeinsam von Zivilgesellschaft und öffentlicher Hand. Im Bestand und mit ca. 65.000 m² Neubau entsteht Raum für Kunst, Kultur, Soziales und Bildung, bezahlbares Wohnen sowie ein neues Rathaus für den Bezirk Mitte und Verwaltungsnutzungen. Bis heute ist Urbane Praxis – als Einladung nicht in Zuständigkeiten und Abgrenzungen zu denken – Kern des Projekts. Das Areal ist ein Gegenentwurf zur „ausverkauften Stadt“ und dient mithin als Projektionsfläche für eine wünschenswerte Stadtzukunft, die neue gesellschaftliche Qualitäten auf der Ebene des Sozialen, Ökologischen, Ökonomischen, Kulturellen und Institutionellen in Aussicht stellt. Die Ko-Produktion der Kooperationsgemeinschaft Koop5 dient als Hebel, um Urbane Praxis als Kern der gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung zu etablieren. Alternative Zugänge zu Planungsprozessen durch kreative Formate der Mitwirkung, Selbstorganisation von Pioniernutzungen und gemeinsame Verantwortung für öffentliche Ressourcen durch Public-Civic-Partnerships sind drei Ausprägungen von Urbaner Praxis, die im Artikel näher beleuchtet und diskutiert werden.

ALLESANDERSPLATZ – Beobachtungen kollektiver Stadtentwicklung

Isis Rampf (Berlin)
Urbanisierung, Beton, Stein, verschwindendes Grün – mehr als die Hälfte der Menschen lebt heute in Städten. Eine dieser Städte ist Berlin. An ihrem zentralsten Ort und größten Verkehrsknotenpunkt, dem Alexanderplatz, steht der Gebäudekomplex Haus der Statistik, der die letzten elf Jahre langsam zur Ruine verkümmerte. Im Zeitraum von Juni 2019 bis Oktober 2020 begleitete ich den Prozess der Transformation dieses Ortes, in dem durch Pionier*innennutzungen versucht wird, ein alternatives, gemeinwohlorientiertes Konzept von Stadt zu entwickeln, filmisch. Stimmen und Bilder aus dem daraus entstandenen Dokumentarfilm „Allesandersplatz“ sowie Überlegungen zu seiner Dramaturgie werden in diesem collagierten Essay um die Aspekte von Fluktuation, von Partizipation und des Commoning erweitert und als Möglichkeiten einer kollektiven Stadtentwicklung verstanden. Anstatt vollständige Definitionen herauszuarbeiten, werden assoziativ verschiedene Aspekte eines Konzepts einer alternativen Stadt beleuchtet. Kann der „Allesandersplatz“ ein Vorbild für eine offene, nachhaltige und diverse Zukunft sein? Ein Ort, an dem alles anders ist?

Sonnenberg und Chemnitz 2025. Wechselwirkungen von Kunstprogrammen und prozessualer Stadtentwicklung. Einführung

Annette Menting (Leipzig)
Mit dem Konzept für die Kulturhauptstadt Europas Chemnitz 2025 ist die Verknüpfung von Kunst und Kultur, Stadtentwicklung und partizipativen Prozessen explizit formuliert. Das war Anlass, sich angesichts der MAP-Ausgabe zur Urbanen Praxis den Transformationsprozessen dieser Stadt zu widmen. Der Fokus richtet sich exemplarisch auf das Quartier Sonnenberg, wo neue Kunstinitiativen und Raumkonzepte für die kulturelle und gemeinwohlorientierte Belebung des Stadtteils bereits seit 2010 zunächst von Akteur:innen und dann auch von und mit der Stadtverwaltung entwickelt wurden. Dieser zweiteilige Beitrag befragt die Wechselwirkungen von kulturell-räumlicher Quartiersentwicklung und dem Kulturhauptstadt-Programm, um Impulsen und Initiativen, Teilhabe und nachhaltiger Wirksamkeit der Projekte nachzugehen. Mit Blick auf verschiedene Projekte, Prozesse, Netzwerke und ihre Anbindung an Kulturhauptstadtprogramme wurden Gespräche mit zwei Chemnitzerinnen geführt. Ergänzende Notizen kontextualisieren die angeführten Orte und Programme von Kunst, Kultur, Architektur und Stadtentwicklung.