Produktion, Vernetzung und Vermittlung als ortsspezifische künstlerische Praxis in und um die station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf

Eine Collage von Adam Page (Berlin)

 

 

 

Hellersdorf liegt im Nordosten des Bezirks Marzahn-Hellersdorf und damit an der östlichen Landesgrenze Berlins zu Brandenburg. Die Wuhle bildet die westliche Stadtteilgrenze. Der Hellersdorfer Graben durchfließt eine Kette von Parks in Hellersdorf (Kienbergpark, Regine-Hildebrandt-Park) und mündet in die Wuhle. An der nördlichen Stadtteilgrenze liegen die Hönower Weiherkette (südlich der Berliner Straße) und der Teupitzer Park (südlich der Landsberger Chaussee).

Die Großwohnsiedlung Berlin-Hellersdorf ist Teil des Bezirks Marzahn-Hellersdorf. Sie ist durch die U-Bahn-Linie U5 zwanzig Minuten vom Alexanderplatz entfernt. In der Großwohnsiedlung Hellersdorf wohnen ca. 85.000 Menschen. Sie wurde von 1980 bis 1989 auf ehemaligen Rieselfeldern in Plattenbauweise errichtet. Die Siedlung entstand zwischen den Naturräumen des Wuhletals, der Hönower Weiherkette, der Barnim-Hochfläche und den dörflichen Strukturen von Kaulsdorf und Mahlsdorf. Das Beziehungsgeflecht zwischen den Wohnblocks der Großsiedlung und der vorhandenen Natur ist erlebbar entlang einer Reihe großzügiger Grünflächen.

In den letzten Jahren wird Hellersdorf im Rahmen des Programms „Wachsende Stadt“ verdichtet. Den ersten großen land claim seit der ursprünglichen Bebauung der Rieselfelder unternahm die Stadt 2014 mit der Umgestaltung des Kienbergs zum Austragungsort der IGA 2017. Seitdem sind viele kleine Grün- und Freiflächen für den Wohnungsbau freigegeben. (Quelle: Wikipedia, 15.2.2023)

 

 

Bild 1: Großplakat „haus urbaner kulturen“ von Eva Hertzsch & Adam Page
auf dem Alice-Salomon-Platz, Berlin-Hellersdorf, im Rahmen von Die Pampa
lebt,
2020. © Foto: AG station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf

 

Die station urbaner kulturen hat sich seit 2014 aus dem Projekt „Kunst im Untergrund“ zum zweiten Standort der nGbK in (Berlin-)Hellersdorf etabliert. Dem einst jüngsten Stadtteil der DDR, dessen Geschichte nach 1989 und seinem aktuellen Wandel sind durchgehend Fragen zu sozialer Stadtentwicklung, Gemeinwohl und gesamtstädtischen Zusammenhängen eingeschrieben. Die dort stattfindenden Ausstellungs- und Veranstaltungsprojekte verhandeln diese Themen aus verschiedenen Perspektiven und sind geprägt durch die künstlerische Praxis der Beteiligungsformate: Sie wirken in das Quartier hinein und erzeugen neue öffentliche Räume. So wie die Grünfläche, die seit 2016 auch „Place Internationale“ genannt wird, sind es Orte der künstlerischen Interaktion mit der Anwohner:innenschaft und der gemeinschaftlichen Gestaltung für ein Miteinander im Bezirk.

In der nächsten Legislaturperiode stehen große städtebauliche Projekte in Hellersdorf an, bei denen die „Helle Mitte“ zum kulturellen wie wirtschaftlichen Zentrum des Stadtteils avancieren, ein Schulcampus auf der Grünfläche „Place Internationale“ geplant und ein Freibad am Jelena-Šantić-Friedenspark gebaut werden soll.

„Durch das Archiv“ (2022) fokussiert den Blick auf die partizipativen Projekte aus sieben Jahren station urbaner kulturen und zeigt, welche Aneignungsprozesse, Ansprüche, Wünsche und Vorarbeiten von Anwohner:innen gemeinsam mit Künstler:innen an diesen Standorten bereits existieren. Sie formieren einen Aufruf an die Stadtentwicklungsämter, diese informellen Vorleistungen durch Beteiligungsprozesse aufzugreifen und zu verfestigen. (Quelle: „Durch das Archiv“, Ausstellung und Veranstaltungsreihe, 27.1.–12.3.2022, station urbaner kulturen, https://archiv.ngbk.de/projekte/durch-das-archiv , 20.1.2023)

 

station urbaner kulturen: Diskursiver Ausstellungsraum und Ort für gemeinsames Arbeiten von Künstler:innen und Anwohner:innen seit 2014

 

 

Bild 2: Eröffnung der Ausstellung Gemeinsame Räume offenhalten von
Studierenden der UDK Berlin mit Dagmar Pelger vor der station urbaner
kulturen, 2021. © Foto: AG station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf

Ausstellungen seit 2014 in der station urbaner kulturen mit Akinbode Akinbiyi, Renau Epstein, Anne König + Jan Wenzel, Atelier Lucien Kroll, Sven Johne, Helga Paris, Lars Preisser, Pia Lanzinger, Elske Rosenfeld, Katharina Sieverding, Arne Schmitt, Ulrich Wüst u. a.

 

 

Place Internationale. Aneignungen, Veranstaltungen und Billboards seit 2016

 

Bild 3: Cricket-Fest, Säulensturz und Kreise ziehen. Teil 4 auf
der Grünfläche Place Internationale, Berlin-Hellersdorf 2020.
© Foto: Juan Camilo Alfonso

Oben links im Bild: Säulensturz Place Internationale von Folke Köbberlin, Valeska Peschke und AG station urbaner kulturen (nach einer Idee von Jochen Becker), Gestaltung und Performance seit 2017, in Zusammenarbeit mit: Gemeinschaftsunterkunft Maxie-Wander-Straße, Melanchthon-Gymnasium, JFE U5 u.v.a.

Mitte: Installation eines Cricketfeldes auf der Grünfläche und Begleitung der Gründung der Cricket-Abteilung des AC Berlin e. V. durch Menschen mit Fluchterfahrung samt erster weiblicher Cricket-Mannschaft Berlins AC Berlin Women.

 

  

Wie setzen künstlerische Initiativen Impulse für stadtverändernde Entwicklungen? Beispiele aus sieben Jahren station urbaner kulturen.

„Die Pampa lebt. Hellersdorf als Großwohnsiedlung gestern, heute und morgen“ (2019–2021), Ausstellung, 13.9.–1.11.2020

Eva Hertzsch & Adam Page mit Sabine Büttner, Mike Hartwig, Rosel Juhl, Siegfried Nord, Evelin Paap und Lutz Reineke

Das soziale, politische und kulturelle Gefüge eines immer kosmopolitischeren und widersprüchlicheren Hellersdorf ist Ausgangspunkt des künstlerischen Rechercheprojekts Die Pampa lebt im Quartier Boulevard Kastanienallee (2019–2021). Seit März 2019 arbeitet eine Gruppe von Anwohner:innen mit den Künstler:innen Eva Hertzsch und Adam Page unter anderem zu den Fragen: Welche Hoffnungen, Ängste, Glücksversprechen und Kränkungen gab es hier in den 1990ern und heute? Welche Auswirkungen hat der Wegfall vieler Arbeitsplätze in der Industrie? Welche Zukunftsvisionen gibt es für Hellersdorf?

Während gemeinsamer Ausflüge zu anderen Großsiedlungen und Ausstellungen sammelten sie mehr als 300 Antworten in Form von Dokumenten, Fotos und Statements.

Von diesem Material inspiriert, malten Eva Hertzsch und Adam Page Aquarellbilder, die wiederum zentrale Motive für eine Reihe von Großplakaten an drei Standorten im Quartier Boulevard Kastanienallee bilden. (Quelle: Pressemitteilung zur Ausstellung Die Pampa lebt, online unter: https://archiv.ngbk.de/projekte/die-pampa-lebt/, 20.1.2023)

 

 

Bild 4: Großplakat „Wohnen am Cotti“ von Eva Hertzsch & Adam Page
vor dem U-Bahnhof Cottbusser Platz, Berlin-Hellersdorf, im Rahmen von
Die Pampa lebt, 2020. © Foto: AG station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf

 

Bild 5: Großplakat „Kienberg Gas“ von Eva Hertzsch & Adam Page
vor dem U-Bhf. Cottbusser Platz, Berlin-Hellersdorf, im Rahmen von
„Die Pampa Lebt“, 2020. © Foto: Nihad Nino Pusija/nGbK Berlin

 

Projekt Wer war Albert Norden? von Ina Wudtke,
U-Bahnhof Kaulsdorf-Nord in Hellersdorf, seit 2015

Die Berliner U-Bahn-Station Kaulsdorf-Nord hieß von 1984 bis 1992 „Albert-Norden-Straße“, ebenso trug die heutige Cecilienstraße in diesem Zeitraum den Namen von Albert Norden. Die Installation „Wer war Albert Norden?“ verhandelt die symbolische Besetzung des öffentlichen Raums durch die Benennung und Umbenennung von Stationen, Straßen und Plätzen. Ina Wudtke fragt, 22 Jahre nach der Umbenennung, ob es richtig war, zu versuchen, den Namen des jüdischen, kommunistischen, antifaschistischen Journalisten und Politikers Albert Norden aus dem kollektiven Bewusstsein zu löschen und die Albert-Norden-Straße wieder, so wie von 1910 bis 1984, nach Cecilie zu Mecklenburg zu benennen. Sie war die letzte deutsche Kronprinzessin, die offen die NSDAP unterstützte, für die Wiederherstellung der natürlichen Grenzen eintrat, die Rückgabe der Kolonien forderte und ein antisemitisches Gedankengut vertrat.
Die Installation Wer war Albert Norden? ist seit 1. Mai 2015 im U-Bahnhof Kaulsdorf-Nord zu sehen. Darüber hinaus organisierte Ina Wudtke eine gleichnamige sechswöchige Ausstellung mit 19 Künstler:innen, einem Rahmenprogramm mit Filmscreenings und Vorträgen direkt am Cecilienplatz. (Quelle: https://www.inawudtke.com/arbeiten/wer-war-albert-norden-arbeiten/, 20.1.2023)

 

 

Bild 6: Wer war Albert Norden? von Ina Wudtke am U-Bahnhof
Kaulsdorf-Nord in Berlin-Hellersdorf im Rahmen von Was ist draußen?,
seit 2015. © Foto: AG station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf

 

 

Projekt „Arne Schmitt: Zum Gedanken der aktiven Minderheit“, Ausstellung 29.4.–14.8. 2021

„Man ist sich dessen bewußt, daß hier, alles in allem, eine Minderheit am Werk ist. Doch das ist immer so gewesen. Nur, diese Minderheit ist effektiv, kann sich artikulieren, es sind Eiferer, und die Ideen, die sie der Mehrheit kundtun, sind keine Luftgespinste und finden Gehör.“ (Cees Nooteboom zum Mai ʼ68 in Paris)

Der offene Konflikt, den Student:innen und Staat im steinernen Zentrum der europäischen Stadt ausfochten und der zeitweise weite Teile der Bevölkerung aktivierte, hatte seinen Anfang in der Pariser Peripherie genommen: auf den modernen Campusanlagen von Nanterre. Genauso in Bordeaux: Die ersten studentischen Proteste spielten sich in den Wohnheimen der weitläufigen suburbanen Universitätszone ab, die ab den 1950er-Jahren umgesetzt wurde. Nur die Geisteswissenschaften waren 1968 noch im Zentrum verblieben und wurden zum Hauptquartier der Student:innenbewegung. Nach Ende der Unruhen forderte der zuständige Präfekt die schnellstmögliche Verlegung der Fakultät an den Stadtrand.

Die Bezüge sind reich, die sich hier zwischen Zentralismus und Marginalisierung, zwischen Stadtplanung und technokratischer Gesellschaftssteuerung auftun. Aktive Minderheiten agieren nicht selten vom Rand aus – doch der Weg ins Zentrum ist unerlässlich, wenn sich nachhaltige Veränderung einstellen soll. Dasselbe gilt auch für jenes in jüngster Zeit umkämpfte Terrain, das sich zwischen Sprache, Denken und Handeln eröffnet.

Student:innen in Berlin-Hellersdorf äußerten Kritik an einem Gedicht, das von der Leitung ihrer Hochschule an der Fassade angebracht worden war. Sie forderten Beteiligung, gingen demokratisch durch alle Gremien der Hochschulselbstverwaltung – und erreichten so Veränderung. Eine Mehrheit aus Politik und Gesellschaft, vor allem durch ein Mehr an Macht gekennzeichnet, empörte sich darüber dermaßen, dass sie autoritäres Einschreiten forderte – nicht selten Bezug nehmend auf ihre eigenen 68er-Werte. Der Vorwurf: Die Student:innen sprächen lediglich für eine Minderheit.

(Quelle: https://archiv.ngbk.de/projekte/arne-schmitt-zum-gedanken-der-aktiven-minderheit/, 20.1.2023)

Bild 7: Ausstellungsansicht Arne Schmitt: Zum Gedanken der
aktiven Minderheit
, station urbaner kulturen,
Berlin-Hellersdorf 2021. © Foto: Arne Schmitt

In welchem Verhältnis stehen selbstorganisierte Akteur:innen und partizipative Formate der Stadtentwicklung?

Projekt „Wo können, wo sollen wir spielen?“, Juan Camilo Alfonso mit Anwohner:innen, 2020/21

Kartogramme von Juan Camilo Alfonso Angulo, 2020–2022, Gemeinschaftsunterkunft Maxie-Wander-Straße 78, Berlin-Hellersdorf, in Zusammenarbeit mit Habib, Mustafa, Bozan, Rodi, Jakob, Edita, Rahman, Mahdi, Ali, Zahranda, Tirat, Jawid, Schaksalem, Alina, Elene, Masouma, Shuleman, Adi, Maryam und anderen jungen Anwohner:innen

Im Rahmen der Ausstellung Durch das Archiv, die einen besonderen Schwerpunkt auf Beteiligungsformate setzt, stellt der Künstler und Grundschullehrer Juan Camilo Alfonso das im Jahr 2020/21 umgesetzte Projekt Kartogramme vor. Dieses Projekt ist mit jungen Anwohner:innen der Gemeinschaftsunterkunft Maxie-Wander-Straße 78 entstanden.
Durch das Archiv zeigt, welche Aneignungsprozesse, Ansprüche, Wünsche und Vorarbeiten von Anwohner:innen und Künstler:innen nach sieben Jahren station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf bereits existieren. Durch das Projekt von Juan Camilo Alfonso kommen die Perspektiven ganz junger Menschen zum Vorschein – jener Generation, die von der Planung eines Schulcampus auf der Grünfläche „Place Internationale“ und auf dem Gelände ihrer aktuellen Unterkunft am stärksten betroffen ist. [...]
Zum Projekt Kartogramme ist eine Publikation im Risodruckverfahren entstanden, die in einer limitierten Auflage zur kostenlosen Mitnahme bereitsteht. Darin wird das Projekt umfassend vorgestellt und mit einem Poster visualisiert. (Quelle: https://archiv.ngbk.de/projekte/durch-das-archiv/, 20.1.2023)

 

Bild 8: Wo können, wo sollen wir spielen? von Juan Camilo Alfonso mit Kindern der Gemeinschaftsunterkunft Maxie-Wander-Straße 78, Berlin-Hellersdorf, im Rahmen
des Projekts Kartogramme, 2020/21. © Abbildung: Juan Camilo Alfonso

Bild 9: Workshop des Kinder- und Jugendbeteiligungsbüros Marzahn-Hellersdorf
auf der Grünfläche Place Internationale, Berlin-Hellersdorf, im Rahmen
von Die Pampa lebt, 2020. © Foto: Benjamin Renter

 

 

Welche Transformationsprozesse von brachliegendem Bestand lassen sich als (Urban) Reset beschreiben?

Zum Aktionsfeld der station urbaner kulturen gehören Freiluftveranstaltungen und Ausstellungen auf der naheliegenden Grünfläche, genannt Place Internationale. Diese Fläche ist seit 2016 ein Ort zum gemeinsamen Arbeiten von Künstler:innen und Anwohner:innen mit Formaten wie Krickettraining und Turnieren, Workshops, Ausstellungen u. a. Sie steht beispielhaft für viele ehemalige Freiflächen innerhalb der Stadt, die sich als öffentliche und kostenlose Orte für nachbarschaftliche Nutzungen sowie Kultur und Freizeit anbieten, aber permanent von Bebauung bedroht sind. Ab 2025 baut die Verwaltung eine neue Schule auf die Fläche. Vor diesem Hintergrund untersucht aktuell der Arbeitskreis der station urbaner kulturen AK Schule der Zukunft, bestehend aus Anwohnerschaft, Künstlerschaft und Bildungsmitwirkenden, die Relevanz von Begriffen wie Bildungscampus, Bildungsutopien, Laborschule, Partizipation im Schulbau, Quartierschule, Schulbauoffensive, Umweltschule und Universitätsschule für ein zukünftiges Reset von Bildung in Hellersdorf.

 

 

Bild 10: Cricket-Fest auf der Grünfläche Place Internationale, Berlin-Hellersdorf
2017. © Foto: AG station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf

 

  

Wie werden historische Schichten sichtbar und Erinnern aktiviert?

Kienberg Gas, Eva Hertzsch & Adam Page mit Anwohner:innen im Rahmen von Die Pampa lebt – Hellersdorf als Großwohnsiedlung gestern, heute und morgen, 2019–2021

 

 

Bild 11: Großplakat Kienberg Gas von Eva Hertzsch & Adam Page vor dem U-Bahnhof
Cottbusser Platz, Berlin-Hellersdorf, im Rahmen von Die Pampa lebt, 2020.
© Foto: AG station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf

Das Motiv Kienberg Gas vor dem U-Bahnhof Cottbusser Platz zeigt die künstlerische Utopie der zukünftigen Umwandlung des Kienbergs vom IGA-Standort zur Energiequelle: Aus den unter dem Kienberg kompostierenden Ablagerungen der Vergangenheit wird Biogas produziert und in der Großsiedlung verteilt.

(Quelle: Pressemitteilung „Die Pampa lebt“, unter: https://archiv.ngbk.de/projekte/die-pampa-lebt/ , 20.1.2023)

 

Projekt „Stadt, Peripherie, Land (Schritte 1971–2026)“ von Eva Hertzsch und Adam Page, 2021

Im fünften Teil der Reihe Kreise ziehen werden die urban-ruralen Verflechtungen von Stadt und Land thematisiert. Kultur, Politik und Wissenschaft behandeln seit langem Stadt und Land als klar getrennten Gegensatz. Diese Fokussierung auf die Unterschiede trägt möglicherweise auch zur gegenwärtigen Spaltung von Land und Stadt bei: Als unvermeidbare Wechselbeziehung wurde bisher hingenommen, dass das Land Raum verliert, um zu ermöglichen, dass die Stadt Platz gewinnt. Die Hinterlassenschaften dieses Gewinner-Verlierer-Duells werden sichtbar und dort erfahrbar, wo Stadt und Land sich begegnen: in der Peripherie. Hier ist eine „zwischen/stadt/landschaft“ entstanden, deren Anwohner:innen das Städtische und das Ländliche gleichermaßen kennen und verstehen.

Diese besondere Expertise ist auch innerhalb der Hellersdorfer Anwohner:innenschaft vorhanden. Die Großwohnsiedlung Hellersdorf wurde zwischen 1980 und 1989 auf Rieselfeldern gebaut. Sie entstand zwischen den Naturräumen des Wuhletals, der Hönower Weiherkette, der Barnimhochfläche und den dörflichen Strukturen von Kaulsdorf und Mahlsdorf. Das Beziehungsgeflecht zwischen den Wohnblocks der Hellersdorfer Großsiedlung und der vorhandenen Natur ist erlebbar entlang einer Reihe von großzügigen Grünflächen.

Dieses Grün wurde je nach politischem System sowie stadt- und regionalplanerischer Dekade entweder urbanistisch gestaltet oder der Natur überlassen. Viele der zu DDR-Zeit geplanten Grünräume in der Hellersdorfer Großsiedlung waren zum Mauerfall noch Erde und Baustellenschlamm. EU-Mittel machten die Schlammlandschaft in den 1990ern zu Parks, um so die Stadtflucht der Hellersdorfer:innen zu stoppen. Dem unaufhaltsamen Wegzug folgte zwischen 2002 und 2008 der Abriss von Bildungs- und Kultureinrichtungen und auch von Wohnungen. So entstanden wiederum Erde und Schlamm, die sich in zehn Jahren erneut von der Brach- zur Grünfläche entwickeln konnten.

Eine solche Grünfläche ist heute die große Wiese, die die station urbaner kulturen seit 2016 Place Internationale nennt und im Rahmen eines Kooperationsvertrags zwischen dem Kulturamt und der nGbK für künstlerische Aktivitäten und Vermittlungsarbeit im Stadtteil nutzt. Bisher konnten sich die Naturräume in der Großsiedlung behaupten, für das Stadt-Land-Duell gibt es Gleichstand und es ist „das viele Grün“ entstanden, das die Anwohner:innen einheitlich als das „Lieblingsmerkmal von Hellersdorf“ bezeichnen.

In den letzten Jahren nun stellt ein neuer Planungsschwerpunkt mit Verdichtungen im Rahmen des Programms „Wachsende Stadt“ diesen Gleichstand in Frage. Den ersten großen land claim seit der ursprünglichen Bebauung der Rieselfelder machte die Stadt 2014 mit der Umgestaltung des Kienbergs zum Austragungsort der IGA 2017. Seitdem sind viele kleine Grün- und Freiflächen für den Wohnungsbau freigegeben. Eine Abstimmung zu den inzwischen bekannt gewordenen Pläne für Wohnungsbau am „Place Internationale“ wurde vertagt. Entscheidungen der nächsten stadt- und regionalplanerischen Dekade sollten erst nach der Wahl 2021 getroffen werden.

Wie also soll eine Qualifizierung, eine Überlagerung und Weiterentwicklung des urbanen Grüns aussehen – in Anbetracht großer Wohnungsnot und fehlender Infrastruktur?

Vor diesem Hintergrund möchte Kreise ziehen. Teil 5 die Vergangenheit der Grünfläche Place Internationale reflektieren und Zukunftsvisionen artikulieren.

(Quelle: https://archiv.ngbk.de/projekte/kreise-ziehen-5/, 20.1.2023)

2022 entschied die Verwaltung, ab 2025 eine Integrierte Sekundarschule (ISS) auf die Grünfläche zu bauen. (AP)

 

 

 

Bild 12: Großplakate Stadt, Peripherie, Land (Schritte 1971–2026) von
Eva Hertzsch & Adam Page auf der Grünfläche Place Internationale,
Berlin-Hellersdorf, im Rahmen von Kreise ziehen. Teil 5, 2021.
© Fotos: AG station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf

 

 

Schule der Zukunft

 

Bild 13: „Haus C (Klassenzimmer im Freien“ vom AK Schule der Zukunft
seit Sommer 2022 auf der Grünfläche Place Internationale, Berlin-Hellersdorf
(Pavillon: Heinz Scheid/ABB Architekten, 1971). © Foto: AG station urbaner
kulturen/nGbK Hellersdorf

„Klassenzimmer im Freien

ab Sommer 2023, Restaurierung, Installation und Nutzung eines ehemaligen Dresdner-Bank-Pavillons (ABB-Architekten, ca. 1971), mit Konrad-Wachsmann-Schule, Bildungsverein Bautechnik, AK Schule der Zukunft u.v.a.