Die entblößte Stadt

Zero Jigens urbane Interventionen vor der Kulisse des japanischen Wirtschaftswunders

Ulrike Krautheim (Tokyo)

 

 

Ein Zug nackter Männer schreitet, eine Hand jeweils erhoben, durch eine belebte Einkaufspassage im Tokioter Viertel Shinjuku. Vor den Gesichtern tragen sie Gasmasken, deren Mundschläuche ohne Sauerstoffzufuhr in der Gegend des Geschlechts funktionslos hin- und her baumeln.

 

 

Abb. 1: Zero Dimension’s Buck-Naked and Gas-Masked Walking Ritual
at Kinokuniya Building in Shinjuku, Tokyo, December 9, 1967
© Mitsutoshi Hanaga Courtesy of Mitsutoshi Hanaga Project Committee.
(Taro Hanaga, Gallery Kochuten and Aoyama Meguro)

 

Bei dieser Szene handelt es sich um ein „Ritual“ der Avantgarde-Künstlergruppe Zero Jigen (Zero Dimension) mit dem Titel Zenra Bōdokumen Sōkō Gishiki (Nacktes Gasmaskenmarschritual, 1967). Zero Jigen gilt als eine der aktivsten und radikalsten Formationen der japanischen Happening- und Performanceszene der 1960er-Jahre, deren Protagonist*innen der Kurator und Kunsttheoretiker KuroDalaiJee unter dem Begriff „ritualistische Künstlergruppen der 1960er Jahre“ zusammenfasst. [KuroDalaiJee 2003: 32]

Zero Jigen ging aus einem Kreis von Künstler*innen hervor, die ab den späten 1950er-Jahren zunächst auf dem Gebiet der Malerei und Skulptur tätig waren und ihre Aktivitäten ab 1963 zunehmend in den Bereich der Performance verlagerten. Die führenden Köpfe dieser Hinwendung zur Performance waren der bildende Künstler Kato Yoshihiro und der Fotograf Iwata Shinichi, beide gebürtig in Nagoya, der zweitgrößten Stadt Japans, die zunächst auch die Basis der künstlerischen Aktivitäten von Zero Jigen bildete. Über den Zeitraum des Bestehens der Gruppe von 1963 bis 1972 realisierte Zero Jigen mehrere Hundert ihrer sogenannten Rituale, die oft interventionistischen Charakter haben: in urbanen Ballungszentren, in Vergnügungseinrichtungen wie Varietés oder Strip-Lokalen, in öffentlichen Bädern, in Kinos, Theatern und Kulturhäusern. Dabei erweiterten sie den Radius ihrer Aktivitäten zunehmend auf andere japanische Städte, insbesondere auf Tokio, darüber hinaus u. a. auf Kyoto und Fukuoka.

 

Die nullte Dimension – performative Praxis als Negation

Eines der ersten Rituale von Zero Jigen, das am Neujahrstag des Jahres 1963 den Start ihrer Aktivitäten auf dem Feld der Performance einläutet, ist eine Werbeaktion für ihre zeitgleich im Kunstmuseum der Präfektur Aichi stattfindende Ausstellung. Das Ritual mit dem Titel Haitsukubari Kōshin (Kriechprozession) etabliert ein Leitmotiv der Arbeit von Zero Jigen – das Kriechen bzw. Krabbeln einer Gruppe von anonymisierten Körpern auf dem Boden –, in diesem Fall realisiert auf einer Straße in Sakae, dem geschäftigen Stadtzentrum von Nagoya.

 

 

Abb. 2: Crawling Ritual for Insanity Nonsense Exhibition.
© Zero Jigen Katō Yoshihiro Archive. Collection of
Aichi Prefectural Museum of Art

 

Die Kriechperformance tritt im Schaffen von Zero Jigen immer wieder auf und wird an wechselnden Orten nackt oder in Kleidung durchgeführt. Das Motiv des Kriechens steht in engem Zusammenhang mit der Namensgebung der Gruppe und dem programmatisch formulierten Ziel, das menschliche Sein in die ‚Dimension Null‘ zurückzuführen. Koiwa Takayoshi, ein zentrales Mitglied in der frühen Phase von Zero Jigen, verortet den Ausgangspunkt der Kriechperformance im frühkindlichen Stadium der menschlichen Existenz: „Als Kinder sind wir ausnahmslos auf allen Vieren gekrochen. Wir zeigen ganz einfach, dass Erwachsene das auch können.“ [Koiwa 1964: 4]

KuroDalaiJee, Kurator und einer von wenigen japanischen Kunsttheoretikern, der sich wissenschaftlich intensiv mit dem performativen Schaffen von Zero Jigen auseinandersetzt, beschreibt den Bezug von Zero Jigen zur ‚Dimension Null‘ wie folgt:

„Die Idee der Rückführung auf Null, der kompletten Ablehnung existierender Ausdrucksformen, kann man in den künstlerischen Strömungen des 20. Jahrhunderts in Europa sehen, besonders im Dadaismus und bei John Cage, und den Künstler*innen, die von ihm beeinflusst waren. Aber Zero Jigen war einzigartig in der Art, wie sie die Ablehnung des ‚Selbst‘ als Subjekt des Ausdrucks mit dem Zurücksetzen der physischen Präsenz des Menschen auf Null kombinierten.“ [KuroDalaiJee 2003: 35]

KuroDalaiJee hat anhand der Dokumente ihrer Aktivitäten über den Zeitraum des knapp zehnjährigen Bestehens der Gruppe zentrale Motive ihrer Performances gesammelt und kategorisiert, die einen Eindruck vom Repertoire der Ausdrucksmittel geben, aus dem Zero Jigen in zahlreichen Variationen immer wieder schöpft:

  • Männer und Frauen formieren sich in einer Reihe und schreiten langsam voran, dabei ist eine Hand in der Art eines militärischen Grußes erhoben.
  • Männer bilden auf allen Vieren eine Reihe, während sie an ihre Hintern Kerzen oder Feuerwerkskörper anbinden und diese anzünden.
  • Männer liegen in einer Masse von Körpern auf dem Boden, entweder nackt oder bekleidet.
  • Nackte Männer formieren sich in der Hocke hintereinander wie eine Raupe; in dieser Haltung bewegen sie sich im „Raupenmarsch“ langsam vorwärts.

Auch in Bezug auf die Kostüme bzw. Utensilien, die bei den Performances zum Einsatz kommen, nennt KuroDalaiJee einige Konstanten, die in der Arbeit von Zero Jigen wiederholt auftauchen: „Westliche Kleidung, Frack, Geschäftsanzug, runder Seidenhut, Masken westlich aussehender Gesichter, Outfits für Krieg und Arbeit, Gasmasken, Leggins, weiße Handschuhe, Stirnband, Verbandszeug, Futon (japanische Matratze).“ [KuroDalaiJee 2003: 33]

Die Verquickung des nackten Körpers als Ausdruck der Suche nach einem unverfälschten, von gesellschaftlichen Konventionen unberührten, ahistorischen Zustand, mit Kleidung und Utensilien, die auf den Prozess der Verwestlichung Japans seit dem späten 19. Jahrhundert, auf die Militärdiktatur ab den 1930er-Jahren und schließlich Japans Beteiligung am Zweiten Weltkrieg verweisen, ist in hohem Maße signifikant für die Beschreibung des Bewusstseinszustands der japanischen Bevölkerung in der Nachkriegszeit. Während die traumatischen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs noch weitgehend unverdaut in der Erinnerung der Menschen schwelen, sieht sich Japan bereits einem rasanten Modernisierungsschub aller Lebensbereiche ausgesetzt, der dem Land politisch und wirtschaftlich Anschluss an die westlichen Industriestaaten verschaffen soll.

Ein fokussierter Blick auf die 1960er-Jahre verdeutlicht das beeindruckende Bevölkerungswachstum auf Präfekturebene. Von 9,7 Mio. im Jahr 1960 stieg die Zahl der Einwohner*innen kontinuierlich an und erreichte schließlich mehr als 11,3 Mio. Begleitet wurde diese Entwicklung von vielfältigen Urbanisierungsprozessen. Anfang der 1960er-Jahre setzte eine Suburbanisierung ein, durch die immer weitere Gebiete außerhalb des urbanen Kernbereichs dichter besiedelt wurden. „Tokyo is losing population to the suburbs“, berichtete 1967 die Washington Post. In der Folge verringerten sich die Grünflächen der Präfektur zwischen 1962 (rund zwei Drittel begrünt) und 1969 (nur noch etwa die Hälfte begrünt) deutlich. Zugleich erhöhte sich die Anzahl der Autos auf den Straßen von 920 000 (1963) auf etwa 2 Mio. (1967) – mehr als eine Verdopplung in wenigen Jahren. [Häusler 2021: 22]

Im ersten Jahr des Jahrzehnts fanden – mit der World Design Conference (WoDeCo) als der ersten in Tokio nach dem Zweiten Weltkrieg stattfindenden internationalen Konferenz und der Unterzeichnung der Sister City Affiliation mit New York City – zwei bedeutende internationale Ereignisse statt. Daran waren unter anderem wichtige Protagonisten bedeutender urbaner Zukunftsvorstellungen Tokios direkt beteiligt beziehungsweise wurden von ihnen stark beeinflusst. Tange Kenzō und Maki Fumihiko waren als Architekten Teil der sogenannten Metabolismusbewegung, die die WoDeCo nutzten, um der Welt ihr Manifest eines „new urbanism“ zu präsentieren. [Ebd.: 25f]

 

Abb. 3: Proteste gegen das USA-Japan Sicherheitsabkommen, 1960

File:1960 Protests against the United States-Japan Security Treaty 07.jpg - Wikimedia Commons

Abb. 4: Am Bahnhof Hachiōji, um 1960

File:Station Hachiōji, -a.jpg - Wikimedia Commons

 

Abb. 5: Blick auf Yurakucho, um 1960

File:View of Yurakucho circa 1960.jpg - Wikimedia Commons

 

Abb. 6: Asakusa Rokku, um 1960

File:Asakusa Rokku circa 1960.jpg - Wikimedia Commons

 

Abb. 7: Olympische Spiele, Tokyo 1964

File:2019-10-15-Tokyo1964video-inside-1.jpg - Wikimedia Commons

 

Die für Zero Jigens Rituale charakteristische Verzahnung von Symbolik, die auf den westlichen Lebensstil sowie den Zweiten Weltkrieg referiert, mit dem provozierenden Gestus des nackten Körpers im öffentlichen Raum, macht die ungeschützte Körperlichkeit der Performer*innen zur Projektionsfläche für die Diskontinuitäten und Widersprüche, mit denen sich die Menschen in Japan nach dem Krieg konfrontiert sehen. Die Interventionen von Zero Jigen im urbanen Raum artikulieren den Ruf nach einer radikalen Befragung und Neubestimmung der Koordinaten des menschlichen Seins und der Beziehung zu seinem Lebensraum.

Kato Yoshihiro, zentrale Figur bei der Ausformung der künstlerischen Strategien von Zero Jigen, beschreibt seine Wahrnehmung der Wirkung der Rituale im urbanen Raum folgendermaßen:

„Gerade Orte mit mehr Menschen und mehr Autos waren die Bühne für die nackte ritualistische Gruppe Zero Jigen. Hier begannen wir, ‚die Stadt zu vergewaltigen‘. Wenn die nackte Menge zu laufen begann, kam die Bewegung der gesamten Stadt, im Streben nach hohem Wirtschaftswachstum – Autos, Menschen und Gebäude –, nach und nach zum Erliegen wie in einem Slow-Motion-Film, gebannt vom Blick auf die schönen menschlichen Körper. Mein Körper blickte direkt auf diese Zuschauer. Wenn wir losliefen, zeigte die ganze Stadt ihr nacktes Gesicht. Die Wahrheit ist, dass Zero Jigen nackt agierte, aus der Notwendigkeit heraus, das wahre Gesicht Tokios zu sehen in diesen wahrhaftigen Augen der Stadt Tokio, die unsere Körper anstarrten. Es war das Bedürfnis, die wahrhaftige Seite von Tokio zu sehen. Es ist, als ob man [den Stadtteil] Ginza plötzlich von seiner äußeren Maske befreit sieht.“ [Kato 1986: 7]

In diesem Zitat wird deutlich, dass das Streben nach der Rückführung des menschlichen Daseins auf den Faktor Null, die Rückführung des Körpers in den Ursprungszustand der Nacktheit, bei Zero Jigen einhergeht mit einer fundamentalen Kritik an der an westlichen Werten orientierten Modernisierung Japans. Das Land sieht sich nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg einem rasanten Wirtschaftswachstum ausgesetzt, das einen umfassenden Wandel der Lebens- und Arbeitsformen mit sich bringt und hyperurbane Räume wie den von Tokio generiert. Katos Äußerung macht deutlich, dass das im Zuge der Modernisierung zunehmend den Prinzipien der Rationalisierung und Beschleunigung unterworfene Stadtbild Tokios durch die Konfrontation mit den ‚unverfälschten‘ nackten Körpern von einer ‚maskenhaften‘ äußeren Hülle befreit werden soll.

KuroDalaiJee weist darauf hin, dass die Benennung der Aktionen von Zero Jigen als „Rituale“ Bezüge zum Buddhismus wie auch zur shintoistischen Festkultur herstellt. Kato Yoshihiro referiert in seinen Schriften immer wieder den von ihm selbst kreierten Begriff „Ketsu-zo-kai“ (Gesäß-Sphäre), einer Abwandlung des buddhistischen Ausdrucks „Tai-zo-kai“ (Uterus-Sphäre). Der Fokus auf religiöse Rituale erscheint in seinen Texten als Ausdruck des Bestrebens, den linearen Verlauf der Geschichte aufzulösen und einen Raum zu öffnen, in dem heterogene Zeitebenen simultan erlebbar sind: „… im Kontrast zur linearen, vertikalen Geschichte der Künste (Avant-Garde und Arrière-Garde von der Vergangenheit in die Zukunft), ist das ‚Ketsu-zo-kai Mancharakai‘ eine Welt in reichen Farben, die sich in homogener Richtung seitlich ausdehnt.“ [Kato 1967: 69]

Diese Idee eines nichtlinearen Zeitverlaufs, bei dem heterogene Zeitebenen und multiple Ausdrucksformen des menschlichen Lebens nicht im Widerspruch zueinander stehen, lässt sich auch auf das Konzept der Körperlichkeit in der Arbeit von Zero Jigen übertragen. KuroDalaiJee beschreibt dieses als „karnevalesken, marginalen Körperausdruck, wo sich polarisierende Ideen wie das Heilige und das Vulgäre begegnen, wie bei religiösen Ritualen oder vormodernen Festivitäten“. [KuroDalaiJee 2003: 35]

Gegen die Effektivierung und Ökonomisierung aller Lebensvorgänge, die sich nach dem Krieg in Japan aufs Neue und mit Macht Bahn bricht, setzt Zero Jigen die Behauptung einer vormodernen Körperlichkeit, die noch nicht vereinnahmt ist vom moralischen Kodex der westlichen Welt. Diese Körperlichkeit erscheint als befreit von Scham und bindet Elemente des Vulgären ein, die sowohl in der traditionellen religiösen Festkultur als auch in Vergnügungseinrichtungen wie Varieté und Strip-Show vorkommen.

 

Mobilmachung gegen die Osaka Expo 1970

Während diese Aktivitäten für die Boulevardpresse ein gefundenes Fressen darstellen und mit Schlagzeilen wie „Orgie unter dem Himmel Tokios“ [Shukan 1967: o. S.] immer wieder genüsslich ausgeweidet werden, schweigt sich die japanische Kunstkritik zu den provozierenden Aktionen von Zero Jigen weitgehend aus. Als Grund führt KuroDalaiJee an, dass die Kunstkritik im Japan dieser Zeit stark auf die Kontinuitäten in der westlichen Kunstgeschichte fokussiert ist und mit künstlerischen Ausdrucksformen, die keine Artefakte produzieren, nicht viel anzufangen weiß. Eine Ursache dafür, dass auch nachfolgende Generationen von Kunstkritiker*innen vor einer intensiveren Aufarbeitung der Aktivitäten von Zero Jigen und Gruppen mit ähnlicher Zielrichtung weitgehend zurückschrecken, könnte die politische Radikalisierung und Ideologisierung sein, die viele der ritualistischen Künstlergruppen in den späten 1960er-Jahren durchmachten. Im Jahr 1969, im Vorfeld der Expo in Osaka 1970, formierte sich aus dem Umfeld der ritualistischen Künstlergruppen eine Allianz mit dem Namen „Banpaku Hakai Kyoto-ha“ (Expo ʼ70 Destruction Joint-Struggle Group).

 

 

Abb. 8: Expo ’70, Osaka, Fuji-Pavillon

File:Fuji-Pavilion, Osaka Expo'70.jpg - Wikimedia Commons

Abb. 9: Expo ’70, Osaka, Pavillon Koreas

File:Osaka Expo'70 Korean Pavilion.jpg - Wikimedia Commons

 

Unter dem Motto „Progress and Harmony for Mankind“ will Japan mit der Ausrichtung des Großereignisses Expo im Jahr 1970 unter Beweis stellen, dass das Land die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erfolgreich überwunden und den Anschluss an die westlichen Industrienationen vollzogen hat. Genau diese symbolische Zielrichtung der Expo wird zur ultimativen Zielscheibe für Zero Jigen und die Gruppen in ihrem Umfeld, die Japans Ausrichtung am Wertekanon westlicher Industrienationen radikal in Frage stellen. Neben Zero Jigen sind weitere ritualistische Künstlergruppen wie unter anderem Kokuin, Itoi Kanji (aka Dadakan) sowie Vitamin Art im Rahmen der Banpaku Hakai Kyoto-ha aktiv. Ihre Protestaktionen gegen die Expo sind eingebettet in die im gleichen Zeitraum hoch aufschlagenden Wogen der japanischen Studentenproteste, die sich mit der nationalen Protestbewegung gegen die Verlängerung des Japanisch-Amerikanischen Sicherheitsvertrags (Anzen Hosho Joyaku, Kurzform: AMPO)[1] vermischen.

 

Die Banpaku Hakai Kyoto-ha führt im Jahr 1969, oft im Zusammenspiel mit den studentischen Protestbewegungen, in verschiedenen Städten performative Aktionen gegen die Expo durch. KuroDalaiJee verweist darauf, dass Zero Jigen – um die symbolische Wirkkraft ihrer Aktionen im Zuge der Massenproteste zu gewährleisten – auf eine zunehmende Vereinfachung der dramaturgischen Mittel und die Synchronisierung der Körper der Performer*innen als Masse setzt [KuroDalaiJee 2010: 281], sicherlich auch mit Blick auf die Sichtbarkeit möglicher zukünftiger Aktionen auf dem weitläufigen und besucherreichen Expo-Gelände.

Jedoch löst sich die Banpaku Hakai Kyoto-ha bereits Ende 1969 auf, ist also während des eigentlichen Expo-Zeitraums schon nicht mehr aktiv. Die wiederholte Verhaftung von Gruppenmitgliedern im Zuge der im urbanen Raum durchgeführten Protestaktionen erschwert die Kontinuität der künstlerischen Arbeit massiv. Im ikonischen Expo-Jahr 1970 konzentriert sich Zero Jigen bereits auf ein anderes künstlerisches Genre: den Film. Das Jahr ist im Wesentlichen der Produktion von Inaba no Shiro Usagi (The White Hare of Inaba, Regie: Kato Yoshihiro) gewidmet, der Zero Jigens bisherige performative Aktivitäten dokumentiert und filmisch aufarbeitet. Der Übergang zum Medium Film mag dem Bewusstsein geschuldet sein, dass man mit interventionistischen Aktionen im Stadtraum im Zuge der rasant vorangeschrittenen Regulierung und Funktionalisierung des urbanen Raums an kaum überwindbare Grenzen gestoßen war.

 

Das Ende der Ausstellung Yomiuri Indépendant als Katalysator der Spaltung der japanischen Kunstszene

In der Formierung der Banpaku Hakai Kyoto-ha manifestiert sich die endgültige Spaltung der japanischen Avantgarde-Kunstszene, die sich bereits seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre angebahnt hatte. Ein markanter Wendepunkt, der dazu führt, dass viele Künstler*innen sich am Beginn der 1960er-Jahre von etablierten Ausstellungsräumen abwenden und in den urbanen Raum bzw. Räumlichkeiten außerhalb des Kunstkontextes hineindrängen, ist der Stopp der Ausstellung Yomiuri Indépendant, einer zentralen Plattform der japanischen künstlerischen Avantgarde der Nachkriegszeit. Die Ausstellung, veranstaltet von der rechtskonservativen Zeitung Yomiuri, findet zwischen 1949 und 1963 jährlich im Tokyo Metropolitan Art Museum statt. Als Versuch, die vor dem Krieg stark von elitären Cliquen dominierte und kontrollierte Kunstszene zu demokratisieren, entwickelt sich die Ausstellung, indem sie ambitionierten jungen Künstler*innen freien Zugang zu Ausstellungsmöglichkeiten bietet, rasch zur bedeutendsten Plattform für die künstlerische Avantgarde dieser Zeit. Yomiuri nutzt das freie und demokratische Image, das durch die Ausstellung transportiert wird, um den belastenden Nimbus, der dem Blatt infolge seiner Zusammenarbeit mit dem ultranationalen japanischen Militärregime während des Zweiten Weltkriegs anhaftet, abzustreifen. Jedoch reagieren die Betreiber der Ausstellung auf radikaler werdende künstlerische Ausdrucksformen mit zunehmend repressiver Attitüde. 1958 lehnt das Organisationskomitee erstmals ein für die Ausstellung eingereichtes Werk ab, 1964 wird die Ausstellung nach Gerüchten über eine weitere Radikalisierung ihrer Inhalte schließlich ganz abgesagt, nachdem Yomiuri sich als Sponsor zurückgezogen hat.

Die plötzliche Absage der Ausstellung raubt vielen noch nicht etablierten Künstler*innen dieser Zeit die wichtigste und in vielen Fällen einzige Plattform zur Präsentation ihrer Arbeit. Während der gemäßigtere Zweig der Yomiuri-Indépendant-Künstler sich neue Räumlichkeiten für Ausstellungen erschließen kann, wendet sich der radikalere Zweig der Indépendants vom etablierten Kunstsystem ab, geht buchstäblich „auf die Straße“ und verschmilzt schließlich teilweise mit der politischen Protestbewegung um 1970. Den gemäßigteren Kreisen hingegen erschließen sich im Zuge des Herannahens des internationalen Großevents Expo neue künstlerische und finanzielle Spielräume.

 

Expo und Avantgarde-Kunst

Ab 1967 findet unter Federführung des amerikanischen Kulturzentrums in Tokio eine Serie mit dem Titel „Cross Talks“ statt, bei der an verschiedenen Spielorten Werke der US-amerikanischen Musik- und Filmavantgarde im Zusammenspiel mit japanischen Avantgardekünstlern vorgestellt werden. Im Februar 1969 wird diese Serie überführt in ein Großevent mit dem Titel Cross Talk Intermedia, das in einem der früheren Olympiastadien Tokios von 1964 vor Tausenden von Besuchen abgehalten wird. Im Zuge des Projekts erhalten japanische Avantgardekomponisten wie Ichiyanagi Toshi, Yuasa Joji oder Takemitsu Toru die Möglichkeit, in Zusammenarbeit mit erstklassigen Toningenieuren Klangkunstexperimente als Massenspektakel zu inszenieren, mit finanzieller Unterstützung von Großsponsoren wie Pan American Airways, Sony Corporation etc. Cross Talk Intermedia wirkt wie eine Art Generalprobe für die Expo 1970, bei der private Firmen und Staaten mit viel Geld Avantgardekünstler*innen einkaufen, um massenwirksame Spektakel zu kreieren. Roger Reynolds, Direktor von Cross Talk Intermedia, beschreibt den ideologischen Hintergrund des Großevents in einem Brief wie folgt:

„Foremost on their scale of values was not the furtherance of avant garde ‚art‘ – needless to say – nor the transmission of American values and ingenuity, but capitalizing on an unusual opportunity for reaching a generally antagonistic segment of the Japanese public: the same young students and intellectuals who, as a matter of habit, demonstrate against American bases, visiting Nuclear Ships, and take part in ‚Struggle 70‘ (a term paired with ‚Expo 70‘ and referring to the Japan-American Security Treaty continuation due to come about in 1970.“ [Reynolds 1969]

Während sich also ein Teil der japanischen Avantgardekünstler, die in den 1960er-Jahren mit experimentellen künstlerischen Werken den Weg zur Erschließung neuer Ausdrucksformen gebahnt hatten, im Zuge der Expo mit großen Budgets ausstatten lassen und dafür den Preis der politischen wie ideologischen Vereinnahmung bezahlen, radikalisieren sich viele Protagonist*innen der Performancekunst und des Happenings und geraten dabei hinsichtlich ihrer Arbeitsbedingungen zunehmend auf instabiles Terrain.

Der Kunstwissenschaftler Sawaragi Noi beschreibt in seinem Aufsatz „Hadaka no Terorisutotachi“ (Terroristen der Nacktheit) den 27. April 1970 als einen der wichtigsten Tage in der japanischen Kunstgeschichte der Nachkriegszeit [Sawaragi 1998: 175]. An diesem Tag besetzt Itoi Kanji (aka Dadakan) den Augapfel des von dem Künstler Okamoto Taro gestalteten Expo-Markenzeichens „Taiyō no Tō“ (Sonnenturm) und vollführt anschließend nackt einen Lauf auf dem Expo-Gelände. Es gelingt ihm, 15 Meter zurückzulegen, bevor er von Ordnungskräften festgenommen wird.

Zum letzten Mal prallen hier die beiden Stränge der künstlerischen Avantgarde der 1960er-Jahre sinnbildhaft aufeinander. Dem Künstler Itoi Kanji aus dem Umfeld der Banpaku Hakai Kyoto-ha gelingt es, 15 Meter lang Widerstand gegen all das zu leisten, was die Expo für die gesellschaftliche und kulturpolitische Ausrichtung Japans symbolisiert.

In den 1970er-Jahren ziehen sich viele Künstler*innen des radikaleren Zweiges der Yomiuri Indépendants aus der Sphäre der Kunst zurück bzw. sind abseits des Mainstreams aktiv, in einer künstlerischen Parallelsphäre, die von der Öffentlichkeit wie auch von Forschung und Kunstkritik lange marginalisiert wird. Zero Jigens Hinwendung zum Film in der letzten Phase ihres Bestehens kann man gleichermaßen als Ausdruck von Resignation wie auch Voraussicht interpretieren. Da eine unmittelbare physische Intervention in den Stadtraum zunehmend unmöglich geworden ist, wird das ‚Festhalten‘ ihrer Aktivitäten im beständigeren Medium Film zum Mittel, um die Möglichkeit der Neuentdeckung und Neubewertung ihrer Arbeit durch kommende Generationen zu gewährleisten.

 

 

Literatur

Häusler, Eric. „Unbegangene Wege: Urbanisierungsprozesse und Zukunftsvorstellungen im Tokyo der 1960er Jahre“. In: OAG Notizen, September 2021: 22, https://oag.jp/img/2021/08/Notizen2109_Feature_Haeusler.pdf 20.04.2023

Kato Yoshihiro. „Taifu no me no otokotachi 0(Zero) jigen ni so-kekki seyo!” (Stand up for Zero Jigen, the Eye of the Storm!). In: News Sokuho, Fushosha, 9. Februar 1967: 69, zit. nach KuroDalaiJee 2003: 35.

Kato Yoshihiro. „The all-nude artistic terrorist group ‚Zero Jigen‘ was born in Sakae in my hometown Nagoya“. In: Ragan (Naked Eye), Nr. 3, Bijutsu Tokuhon Shuppan, Nagoya, Dezember 1986: 7, zit. nach KuroDalaiJee 2003: 32.

Koiwa Takayoshi. “Zero Jigen“, Nihon Cho-Geijutsu Mihon Ichi (Japan Sur Art Fair), Zero Jigen Shokai, Nagoya, August 1964: 4, zit. nach KuroDalaiJee 2003: 35.

KuroDalaiJee. The Rituals of “Zero Jigen” in Urban Space, R, 2/2003: 32-37, https://www.kanazawa21.jp/tmpImages/videoFiles/file-52-2-e-file-2.pdf. 20.04.2023

KuroDalaiJee. Nikutai no Anakizumu, Tokio 2010.

Sawaragi Noi. „Hadaka no Terorisutotachi“ in: Ders.: Nihon・Gendai・Bijutsu, Tokio 1998: 175.

Shukan Wadai (Weekly Gossip), Nihon Bunkasha, 5. Oktober 1967: o. S., zit. nach KuroDalaiJee 2003: 32.

Roger Reynolds in einem Brief an Richard Nolte, Institute of Current World Affairs, 19. Mai 1969, http://www.icwa.org/wp-content/uploads/2015/11/RR-20.pdf 20.04.2023

 

 

[1] Die Verlängerung dieses erstmals 1960 geschlossenen Abkommens stand nach zehn Jahren Laufzeit 1970 an. Der Vertrag etablierte Japan dauerhaft als militärischen Bündnispartner der USA und ermöglichte dort die Stationierung US-amerikanischer Truppen.