Polyvalente Alltagsorte

Eine Reflexion über den performativen Exkurs in den Stadtraum von São Paulo

Martina Baum und Markus Vogl (Stuttgart)

 

 

 

 

Prolog

In Forschung und Lehre, aber auch in unserer alltäglichen Praxis als Städtebauer*innen sind wir stets auf der Suche nach den Themen und Phänomenen, die unser alltägliches Zusammenleben konstituieren. Diese lassen sich im Studium der Vergangenheit wie in gegenwärtigen Diskursen, aber auch in Visionen für die Zukunft finden. Die forschende Beschäftigung mit einem Thema führt uns immer zu einem Machen, einem Entwerfen von räumlichen und zeitlichen Strategien. Die komplementäre Herangehensweise aus forschungsbasiertem Entwerfen (research based design) und entwurfsbasiertem Forschen (design based research) ermöglicht es uns, mit und in der Komplexität von Stadt, Raum und Gesellschaft zu arbeiten. Dies scheint uns notwendig, um zu Erkenntnisgewinnen und damit zu Wissen zu gelangen, die in der aktiven Entwicklung von Stadt Relevanz haben.

Unsere Forschung und Lehre ist dabei immer ein offener Diskursraum und in diesem Sinne laden wir dazu ein, unsere Gedanken zu reflektieren und zu diskutieren. Gerade die Debatte hilft uns, unsere eingeübten Denkmuster zu verlassen und offen zu sein für andere Annäherungen an die Komplexität unseres alltäglichen Lebens und das produktive Arbeiten mit eben dieser.

Die Perspektive, die wir grundsätzlich einnehmen, ist jene des Städtebaus, für uns die integrierende, reflektierende und raumgestaltende Position aus Stadtplanung, Architektur und Freiraumgestaltung. Wir sehen das einzelne Gebäude nicht losgelöst, sondern immer in einem Zusammenhang und in Beziehungen zu seinem Kontext. Der Städtebau erlaubt es, eine einladende integralere Perspektive auf unsere gebaute Umwelt einzunehmen. Er eröffnet ein Denken in räumlichen Zusammenhängen und weniger in Flächen, er weitet den Blick von der quantitativen Organisation zur qualitätsvollen Gestaltung von Orten. Diese Haltung lag auch dem performativen Exkurs zu polyvalenten Alltagsorten im Stadtraum von São Paulo zugrunde.

 

Begriff der Polyvalenz

Seit einigen Jahren befassen wir uns mit Polyvalenz in Architektur und Städtebau. Diese Beschäftigung resultiert aus der beschriebenen intensiven Sichtung des Alltagslebens. Wir bedienen uns des Begriffs der Polyvalenz, um spezifische Qualitäten von Räumen über ihre Aneignungsfähigkeit und nicht über ihre formalen Eigenschaften diskutieren zu können. Polyvalenz beschreibt in den räumlichen Disziplinen explizite Eigenschaften von Elementen und Räumen, welche die Offenheit besitzen, auf Veränderungen und Anpassungen reagieren zu können, ohne dabei ihre Begrifflichkeit und Identität zu verlieren. Vielmehr ist ihnen eine Wandelbarkeit inhärent eingeschrieben. Sie sind keine generischen Gebrauchsobjekte, sondern verfügen über Offenheit und Zweckmäßigkeit, die neben den räumlichen auch gesellschaftliche und ökonomische Dimensionen umfassen. [vgl. Aicher 1991]

Weiterhin stimulieren sie eine Auseinandersetzung und regen zur Aneignung an. Das aktive in Besitz nehmen, das Benutzen wird nicht nur ermöglicht, sondern ist erwünscht. Nutzungen und Funktionen, aber auch Bedeutungen und Wirkungen können und dürfen sich verändern und eröffnen somit einen programmatischen wie semantischen Interpretationsspielraum. Es sind Elemente und Räume, die für den Menschen und aus dem menschlichen Maß heraus entworfen wurden. Als Teil unserer Alltagswelten sind sie in kontinuierlicher Benutzung und somit in permanentem Wandel. Diese Eigenschaften werden von Herman Hertzberger treffend beschrieben: „Solche grundsätzliche, aktivierende Lösungen nennen wir ‚einladende Form‘, eine menschenfreundliche Form.“ [Hertzberger 1995: 171] Wir nutzen die Begrifflichkeit der dynamisch-stabilen Strukturen für Raumkonstellationen und Elemente, welche über die komplementären Abhängigkeiten von Stabilität und Dynamik verfügen. „The simultaneous quality of stability and openness is what makes the locations so extraordinary and invites engagement with them.“ [Baum und Christiaanse 2012: 9] Architektur und Städtebau sind aus dieser Perspektive keine optimierten Maschinen oder technischen Infrastrukturen, sondern vielmehr kulturelle Leistungen, die täglich neu von den Nutzer*innen koproduziert werden.

Im Sinne Achim Hahns ist Architektur eine Grundvoraussetzung für das in der Welt Sein des Menschen, ein Lebensmittel, das wir brauchen, um unseren Alltag zu leben. [vgl. Hahn 2008] Wir ergänzen die Architektur um den Städtebau und plädieren dafür, der sozialen Konstruktion des Raumes in Forschung wie Praxis wieder mehr Beachtung zu schenken: „Ein Gebäude sollte […] dazu ermuntern, mit ihm und […] mit der Welt in einen Diskurs zu treten.“ [Olgiati und Breitschmid 2019: 26] Nach Valerio Olgiati können nichtreferenzielle Gebäude sinnstiftend wirken und Resonanz erzeugen. Der Soziologe Hartmut Rosa sieht in Resonanz zwischen Menschen und ihrer Umwelt einen Lösungsansatz, „wenn Beschleunigung das Problem ist“. [Rosa 2016: 133] Polyvalenter Städtebau und polyvalente Architektur stoßen das Entwickeln und das Austarieren dieser Beziehungen auf vielfältigste Weise an.

Damit aber Städtebau und Architektur Polyvalenz ermöglichen können, bedarf es klarer räumlicher Grundlagen. Wenn Yves Moreau Orte und Gebäude als Gelegenheiten beschreibt, gilt es für unsere räumlichen Disziplinen, Riffe zu entwerfen, die zur Besiedlung einladen, und keine funktionsoptimierten und somit determinierten Objekte. [Moreau 2020: 98] Wir verstehen dies als Aufforderung an den Städtebau, die Architektur und die Freiraumgestaltung, diese Gelegenheiten zu finden und produktiv im Entwerfen einzusetzen. Polyvalenz ist somit keine Frage des Maßstabs, sondern eine Zuschreibung von Raumqualitäten und Raumwirkungen in ihrer Benutzung.

 

Konzept der polyvalenten Alltagsorte

Polyvalente Alltagsorte entstehen durch die Interaktion zwischen Mensch und Raum. Es bedarf dabei der Bereitschaft des Menschen, sich mit der eigenen Umwelt aktiv auseinanderzusetzen und in dieser Position Raum zu beziehen. Im alleinigen Konsumieren von Raum können sich die Möglichkeiten von Polyvalenz hingegen nicht entfalten.

Polyvalente Alltagsorte erzählen Geschichten über das Alltagsleben durch die Gebrauchsschichten, welche sich über Gebäude, Strukturen, Elemente legen und diese in Besitz nehmen. In unserem Verständnis entstehen Städtebau und Architektur erst durch diese Alltagsschicht. Im Gegensatz zu Marc Augés generischen, immer gleichen Nicht-Orten [vgl. Augé 2014] machen die Spuren der Interaktion zwischen Mensch und Raum diese Orte zu sowohl einzigartigen als auch kontingenten Orten: Sie sind somit eigensinnig und haben eine ganz eigene Gestaltsprache.

Polyvalente Alltagsorte sind oftmals nicht im Scheinwerferlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit und in den Reiseführern einer Stadt zu finden. Sie bilden vielmehr die Grundlage einer Alltäglichkeit des Städtischen, des Gewöhnlichen im besten Sinne. Sie entstehen auf Basis eigenständiger und situativer Entscheidungen. Hier passiert das tägliche Leben. Gerade diese Alltäglichkeit im Schatten bekannter und begehrter Orte, die oftmals einer dominanten Nutzung unterworfen sind, bildet den Nährboden für Nischen und Biotope ungewöhnlicher Mischungen und Gemeinschaften.

Polyvalente Alltagsorte besitzen eine Offenheit und funktionale Nichtdefinition. Viele Bedarfe und Bedürfnisse können hier ihren Raum finden. Dabei geht es nicht nur um ein aktives Handeln des Menschen im Raum, sondern auch um seine Fähigkeit zur Improvisation und zum Gebrauch seiner Intuition. Die räumliche Kondition muss dabei nicht zwangsläufig verändert werden, sondern oftmals genügt der offene Blick auf das Vorgefundene, um Möglichkeiten zu erkennen und mittels des eigenen Handelns neu zu interpretieren: Der kreative Akt – das Vorstellen von etwas anderem – eröffnet die Potenziale von Polyvalenz.

Räumliche Essenz ebensolcher polyvalenter Alltagsorte, die Identifikation ermöglichen, ist für uns neben Stabilität und Dynamik auch eine Gleichzeitigkeit von Fülle und Leere, die stimulierend wirkt. Wir greifen dabei auf mehreren Ebenen Aldo Rossis Überlegungen zum Typus auf. Diesen beschreibt er in Architektur und Städtebau als „etwas Dauerhaftes und Komplexes, ein logischer Ausdruck, der vor der Form besteht und der sie konstituiert.“ [Rossi 1978: 39] Als Grundelement der Architektur ist seine konkrete räumliche Ausformulierung wie auch Nutzung und Interpretation offen. Wir interpretieren den Typus als charakterstarke Hülle, die abseits der Funktion robust, sinnstiftend und stimulierend ist. Um dies zu verdeutlichen hilft der Blick in die Kunst: Beim metaphorischen Bild Shōin-zu (Kiefernwald, 1590) des japanischen Künstlers Hasegawa Tōhaku geht es nicht um eine möglichst genaue Wiedergabe einer Situation, sondern um die Imagination eines vermeintlichen räumlichen Zustandes, der Spielraum lässt für Interpretation. Das Gezeichnete ist dabei der charakterstarke Rahmen für das mögliche Nichtgezeichnete und lässt Atmosphäre entstehen, durch Interpretationsspielraum innerhalb dieses Rahmens.

Zurück zu Architektur und Städtebau bedarf es klar identifizierbarer und charakterstarker Strukturen als räumliche Kondition, die diese stimulierende Gleichzeitigkeit in sich tragen, um Auseinandersetzung im Räumlichen anzuregen und Aneignung zu ermöglichen. Der Interpretationsspielraum eröffnet eine Bandbreite von möglichen Zuständen zwischen Stabilität und Dynamik von und in urbanen Räumen, innerhalb derer sich polyvalente Zustände, Phasen und Rhythmen ergeben. Polyvalente Alltagsorte müssen somit immer wieder aktiv durch Benutzung und Aneignung neu konstituiert werden. So kann ein reicher Nährboden für das Zusammenleben entstehen, auf dem der Mensch zur Produzent*in des Städtischen und durch diese Identifikation auch zur Bürger*in wird.

 

Abb. 1: Dokumentation des Workshops im Rahmen der 12. Bienal Internacional de Arquitetura in São Paulo – Todo Dia © Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Abb. 2: Polyvalente Elemente: Wand/Mauer und Öffnung/Durchgang
© Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Abb. 3: Polyvalente Elemente: Nische/Ecke und Fläche/Podest

 

Abb. 4: Polyvalente Elemente: Dach/Decke und Treppe/Rampe
© Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

Repertoire der polyvalenten Elemente

Durch die intensive gleichzeitige Auseinandersetzung mit Polyvalenz in vernakulärer Architektur in Deutschland und in internationalen Städtebau-, Architektur- und Freiraumprojekten haben wir ein Repertoire an polyvalenten Elementen identifiziert und formuliert: Wand/Mauer, Öffnung/Durchgang, Nische/Ecke, Fläche/Podest, Dach/Decke und Treppe/Rampe. Grundlage dieser sechs Elemente sind geometrische Formen, die, zu archetypischen Formen weiterentwickelt, polyvalente Wirkung entfalten können.

Rem Koolhaas hat sich 2014 als Kurator der 14. Internationalen Architekturbiennale Venedig Fundamentals in einem Teilbeitrag Elements of Architecture und der dazugehörigen Publikation [vgl. Koolhaas et al. 2018] den grundsätzlichen Bestandteilen der Architektur ausführlichst gewidmet. Das Repertoire der polyvalenten Elemente baut auf diesem Diskurs auf und erweitert ihn um Überlegungen zu Offenheit und Aneignungspotenzial. Nicht nur die Form als Typus, sondern die Kombination aus Form, Gestaltung und Kapazität eröffnet für uns die soziale Dimension in Architektur und Städtebau.

Insbesondere in den Künsten haben wir Inspiration gefunden, die diese Sichtweise bereichert. Projekte, welche die Wirkung und Kapazität der Elemente nutzen, um einerseits besondere Atmosphären aus der Komplementarität von Dynamik und Stabilität zu schaffen und andererseits diese den Nutzer*innen zur Interaktion anzubieten. An Antony Gormleys Installation Horizon Field Hamburg (2012, Deichtorhallen) möchten wir dies exemplarisch verdeutlichen. Die Hamburger Deichtorhallen waren für diese Intervention der Rahmen als offene, charakterstarke Struktur. In den Raum wird hängend, leicht schwingend, eine weite, großzügige, schwarze, auf der Oberfläche komplett verspiegelte, schwebende Ebene eingezogen. Diese Ebene ergänzt mit ihren Eigenschaften die schon vorhandenen Raumeigenschaften der Deichtorhallen. Das Objekt ist Plattform oder Dach, je nach Perspektive. Die Treppe vermittelt zwischen den Niveaus und schafft neue Zugänglichkeiten. Die Besucher*innen werden durch das Objekt eingeladen, sich zu Raum und Objekt zu positionieren. Es entsteht ein spielerischer Dialog zwischen Nutzer*in, Raum und Raumobjekt. Das eigene Tun hat Einfluss auf das Gesamtsystem, die Bewegung auf der Plattform überträgt sich in Schwingungen auf das gesamte Objekt. Es wird deutlich, was die eigene Aktion erzeugt. Und dies kann nicht nur gesehen, sondern auch gespürt werden. Antony Gormley beschreibt es sehr treffend mit den Worten: „life that occupies this opportunity ...“ [Gormley 2012].

Interpretierbare Formen – polyvalente Elemente – eröffnen einen Spielraum, der die Fähigkeit besitzt, zum Schauplatz menschlicher Aktionen und Interaktionen zu werden. Sie haben eine starke physische Präsenz und bieten Handlungspotenzial. Es entwickelt sich nach Sophie Wolfrum und Alban Janson eine Kapazität aus Prägnanz der Form und Spielraum, den die Form eröffnet. [vgl. Wolfrum und Janson 2015] Die polyvalenten Elemente nehmen im Sinne von Herman Hertzberger eine Nutzung nicht nur auf, sondern erzeugen sie erst. Sie sind somit benutzbare Objekte wie zugleich räumliche Setzungen, bestimmt durch ihre Gestalt, Materialität, Lage und Dimension. [vgl. Hertzberger 1995; Janson und Tigges 2013] Im Prozess menschlicher Aneignung können somit Orte entstehen: Alltagsorte.

Wir nutzen die bekannten, gewöhnlichen Elemente, die für jeden benennbar sind, um über die Bedeutung von Aneignung und Aneignungspotenzial von Stadt, Architektur und Freiräumen zu diskutieren. Die radikale Normalität dieser Elemente, ihre Wirksamkeit und Sichtbarkeit im Alltäglichen liefern uns die Basis für eine niederschwellige und spielerische Auseinandersetzung mit der Thematik. Die sechs Elemente sollen dazu anregen, wieder lustvoll über Raum- und Stadtqualitäten nachzudenken und damit zu entwerfen.

 

Einladung zur entwerferischen Auseinandersetzung: Workshop im Rahmen der 12. Bienal Internacional de Arquitetura in São Paulo

Stadt und Architektur manifestieren Raum. Das Konzept der polyvalenten Alltagsorte und das Repertoire der polyvalenten Elemente sind Einladungen zu weiterem Nachdenken, zu kritischer Reflexion und entwerferischer Be- und Verarbeitung. Insbesondere in einer entwerferischen Auseinandersetzung mit dem Konzept eröffnet sich die Möglichkeit, die Elemente durch Gestaltung mit Kapazitäten auszustatten. Sie werden im Raum nicht nur wirksam und sichtbar, sondern auch benutzbar.

Im Rahmen eines Workshops für die 12. Bienal Internacional de Arquitetura in São Paulo haben wir diese Einladung an Studierende der Escola da Cidade São Paulo, Universidad de Buenos Aires (FADU) und der Universität Stuttgart aussprechen können. Die Teilnehmenden hatten die Aufgabe, sich mit dem Konzept der polyvalenten Alltagsorte durch die entwerferische Beschäftigung mit dem Repertoire der polyvalenten Elemente auseinanderzusetzen. Aus der Kombination von zwei polyvalenten Elementen sollte ein räumliches Element für den öffentlichen Raum des zentralen Praça da República entworfen werden. Durch die entstehenden Entwürfe erhofften wir uns ein Feedback unserer Gedanken und neue Erkenntnisse.

Die große Herausforderung des zweitägigen Workshops war es, in einer sehr kurzen gemeinsamen Arbeitszeit nicht nur eine Kombination polyvalenter Elemente aus dem Repertoire heraus zu entwerfen, sondern diese mit einfachen Mitteln auch zu bauen und im Stadtraum von São Paulo zu implementieren. Die Umsetzung kreativer Gedanken nicht nur in einen konzeptionellen Entwurf, sondern auch im Maßstab 1:1 zu realisieren, erlaubt das Experimentieren im Raum, das unmittelbare Austesten in der Realität und eine konkrete Evaluierung der Intervention im und der Transformation von Raum. Die Objekte in Stadtraum und Stadtalltag anzubieten, lieferte uns die Basis für Erkenntnisse über ihre Wirkung und notwendigen Eigenschaften, die wir nachfolgend zusammengefasst darlegen. [vgl. Baum und Vogl 2020]

 

Abb. 5: Realisierung der Entwürfe in der Werkstatt von oficinalab
© Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Abb. 6: Realisierung der Entwürfe in der Werkstatt von oficinalab
© Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Den teilnehmenden Studierenden und Kolleg*innen bot diese Herangehensweise neue Erfahrungen in der konkreten Überführung eines Konzepts in die Ausführungsplanung, den Bau und die Implementierung. Für den Großteil war es die erste Erfahrung dieser Art. Das analoge Arbeiten mit Material, Überlegungen zur Konstruktion, Statik und Fügung ebenso wie die Kalkulation des benötigten Materials war in der Kürze der Zeit für alle eine große Herausforderung. Diese war nur durch die fachliche Unterstützung der ausgebildeten Schreiner des oficinalab zu bewältigen. Die Distanz der planenden Architekt*innen zur tatsächlichen Ausführung und Umsetzung ihrer Überlegungen wurde uns dabei sehr deutlich vor Augen geführt und gibt Fragen auf, über die Architekturausbildung an unseren Schulen und Fakultäten intensiv nachzudenken, dies insbesondere in Zeiten großer gesellschaftlicher Transformationsprozesse und vor dem Hintergrund der anstehenden globalen Herausforderungen wie Klimawandel, soziale Ungleichheit und Umgang mit Ressourcen.

 

Abb. 7: Lage der vier Projekte Ramp and Roof, Planalto, Vociferador und Portal auf der Praça da República in São Paulo © Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Ort der räumlichen Interventionen in São Paulo war der Praça da República in zentraler Lage der Stadt und in unmittelbarer Nachbarschaft zu unserer Partnerhochschule Escola da Cidade. Der Interventionsort und die Wahl der Elemente waren konzeptionell zu begründen. Vier Teams haben Entwürfe für spezifische Orte am Platz konzipiert, dort auch implementiert und die Wirkung der Elemente dokumentiert. Dieser Workshop lieferte Erkenntnisse über die Aneignungsfähigkeit der im Stadtraum platzierten Elemente, über die Abneigung und auch Wertschätzung durch ihre Nutzer*innen sowie über die Vergänglichkeit und stetige Transformation des öffentlichen Raums.

 

In der Gesamtschau der vier Projekte konnten wir schließlich neben den Reflexionen über Zusammenarbeit und Lehre auch verschiedene Rückschlüsse für unser Konzept der polyvalenten Alltagsorte mit dem Repertoire polyvalenter Elemente ziehen, die wir hier in Kürze zusammenfassen wollen:

Der Einsatz polyvalenter Elemente stellt Beziehungen und Bezüge her, eröffnet oder verbessert Zugänglichkeit zu Bereichen oder Orten. Somit können diese dadurch nicht nur inklusiver, das heißt für eine breitere Gruppe an Menschen nutzbar sein, sondern auch aktiv in Wert gesetzt werden. Dies zeigt exemplarisch die Intervention „Portal“: Der reine Wegraum wird durch die Intervention zum definierten Ort und spricht eine Einladung zum Aufenthalt und Innehalten aus. Durch die hohe Frequentierung an diesem Ort, der sich die Intervention sozusagen in den Weg gestellt hat, hatte sie nur kurzen Bestand. Die Bauteile hingegen fanden rege Weiternutzung als Obdach.

 

Abb. 8: Portal, Team: Clara von Deussen, Stephanie Lima, Victoria Cuadrado, Mably Rocha
© Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Abb. 9: Portal, Installation auf der Praça da República
© Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Sie transformieren nicht nur die räumliche Wirkung, sondern auch die semantische Bedeutung und Wahrnehmung eines Ortes. Schon kleine Interventionen entfalten dabei eine Wirkung. Durch die kleine Rampe und das Dach aus Stoff auf dem Podest der Ablufteinrichtung der U-Bahn im Projekt „Ramp & Roof“ wird aus dem Park- und Platzraum trennenden Infrastrukturelement ein aneigenbarer Ort. Die Leichtigkeit der Stoffbahn, die sich im Abluftwind und Zuluftstrom der U-Bahnen bewegt und mit den Bäumen ein Schattenspiel eingeht, erzeugt eine neue atmosphärische Qualität, die insbesondere von Kindern unmittelbar wahrgenommen und spielerisch genutzt wurde.

 

Abb. 10: Ramp and Roof, Team: Viviane Tiezzi, Javier Deyheralde, Luis Silva, Sascha Bauer
© Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Abb. 11: Ramp and Roof, Installation auf der Praça da República
© Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Polyvalente Elemente verfügen über einen Aufforderungscharakter und laden zu Aneignung und Nutzung ein. Sie ermöglichen spielerische Raumaneignung. Nicht nur durch Kinder, auch durch Erwachsene können Orte auf diese Weise aktiv entdeckt und neu für das eigene Alltagsleben interpretiert werden. Hier sei exemplarisch der „Vociferador“ genannt, der als mobile Sprechkanzel zur aktiven Mit- und Ansprache auffordert. Diese Intervention ist insbesondere im südamerikanischen Kontext zu lesen, in dem sich viele soziale Gruppen in der Gesellschaft nicht ausreichend Gehör verschaffen können. Der „Vociferador“ wurde bereits in der ersten Stunde nach Aufbau für eine Demonstration genutzt und war am Abend Teil eines Straßenfestivals.

 

Abb. 12: Vociferador (mobile Kanzel mit Lautsprecher), Team: Juan Pablo Negro, Alexis Schachter, Torres Francisco, Bruna Silva © Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Abb. 13: Vociferador (mobile Kanzel mit Lautsprecher), Installation auf der Praça da República
© Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Natürlich können durch ihren Einsatz auch aktuelle Bedürfnisse und Nutzer*innenwünsche befriedigt werden. Bislang fehlende räumliche Eigenschaften können ergänzt oder gänzlich neu in eine bestehende Situation implementiert werden. Die Intervention „Planalto“ bietet als Beispiel im Umfeld der Bushaltestelle einen Ort an, den die Wartenden unmittelbar als Sitzfläche interpretiert und angeeignet haben. Die Intervention am Übergang zwischen Bürgersteig und Park überwand die räumliche Einfriedung und stellte neue Bezüge her, die in den Abendstunden als Liege- und später Tanzfläche rege genutzt wurde.

 

Abb. 14: Planalto (Hochplateau) Entwurf, Team: Conrado Monteiro, Lucas Chiconi, Guido Fischer, Jonas Mattes © Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Abb. 15: Planalto (Hochplateau) Installation auf der Praça da República
© Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Stadtplanung und Entwerfen

 

Aus der Auswertung der Raumtests konnten neben den Wirkungen auch Eigenschaften der polyvalenten Elemente abgeleitet werden, mit denen im Blick weitergedacht, aber auch entworfen werden kann:

Polyvalente Elemente zeichnen sich durch Robustheit, Wertigkeit sowie qualitativ hochwertige Materialnutzung und Konstruktion aus. Hier tritt die Bedeutung des Handwerklichen zutage, im Entwerfen wie in der baulichen Umsetzung. Das Wissen über Material, Fügung und Baukonstruktion ist eine notwendige Basis für das Entwerfen wertiger und langlebiger Strukturen. Die Zeit, die Alterung und die Benutzung mitzudenken erfordert ein Wissen über diese Grundlagen und das Arbeiten damit im Entwurfsprozess. Nicht das Instagram-taugliche Foto der ersten Stunde, sondern die Alltagsrealität nach vielen Jahren zeigt die Qualität des Entwurfs. Das bedeutet auch, die Alltagsschicht als Wert zu akzeptieren. Erst im Gebrauch entfaltet sich die Architektur.

Polyvalente Elemente passen sich in einen Kontext ein bzw. an diesen an. Sie sind unter Umständen nicht mehr als eigenständige Elemente zu identifizieren, sondern verschwinden im positivsten Sinne mimikry-artig in der Situation. Trotzdem und zugleich behalten sie ihre Eigenständigkeit und Wirkung. Diese Komplementarität zeichnet sie eben auch als dynamisch-stabile Elemente aus.

Polyvalente Elemente sind vielfältig nutzbar durch ihre Mehrdeutigkeit und einladende Form. Sie machen ein Angebot an die Nutzer*in. Diese*r muss sich allerdings damit auseinandersetzen, unter Umständen Widerstände überwinden, um dieses Angebot zu nutzen, sich den Ort anzueignen. Die Nutzer*innen verlassen die Rolle der Raumkonsument*innen und werden zu Raumproduzent*innen. In diesem Agieren entsteht ein individueller Interpretationsspielraum, da die Elemente prinzipiell nur ein offenes räumliches Angebot darstellen.

 

Epilog

Der Entwicklungsprozess dieses Projekts verdeutlicht, wie wir von der Faszination und Beobachtung räumlicher Situationen und der theoretischen Einbettung des Entdeckten zurückkommen auf Personen und deren Haltungen, welche schon vor Jahrzehnten formuliert wurden. Das Wiederstudieren der Texte und Projekte von Herman Hertzberger, Aldo van Eyck, João Vilanova Artigas, Lina Bo Bardi und Otl Aicher ließen uns begeistert und zugleich bedrückt zurück. Wir teilen deren Gedanken zutiefst, waren selbst über eine andere Genese zu ähnlichen Ansätzen gekommen, um deshalb ratlos konstatieren zu müssen, wie wenig sie bis heute in unserer entwerferischen Praxis und gebauten Umwelt Anwendung fanden und finden.

Die Haltung des Ermöglichens bietet großes Potenzial selbst bei klassischen Planungs- und Bauaufgaben. Insbesondere die Schwellenräume zwischen innen und außen, zwischen privat und öffentlich bedürfen wieder einer vermehrten Aufmerksamkeit. Die Fassade als Vermittlungszone, als Angebot und Raum zu denken, die Freiräume von ihrer klassischen Nutzungszuschreibung und rechtlichen Widmung zu lösen sind nur zwei Ansätze, dem alltäglichen Leben vielfältigste Möglichkeiten zu eröffnen. Diese Offenheit für eine soziale Konstruktion des Raums und das Zulassen gelebter Möglichkeiten wären für uns ein sinnvoller Beitrag im Städtebau [vgl. Baum und Vogl 2022].

 

 

Literatur

Aicher, Florian. Gion A. Caminada. Unterwegs zum Bauen. Basel 2018.

Aicher, Otl. analog und digital. Berlin 1991.

Augé, Marc. Nicht-Orte, München 2014.

Baum, Martina und Kees Christiaanse (Hg.). City as Loft. Zürich 2012.

Baum, Martina und Markus Vogl (Hg.). Polyvalent Everyday Places. Stuttgart 2020.

Baum, Martina und Markus Vogl (Hg.). Täglich – Warum wir Öffentlichkeit, öffentlichen Raum und öffentliche Gebäude brauchen. Weimar 2022.

Becker, Margret. Der Raum des Öffentlichen – Die Escola Paulista und der Brutalismus in Brasilien. Berlin 2012.

Gormley, Antony. „Interview in den Deichtorhallen Hamburg“. 2012. https://www.youtube.com/watch?v=776JF0oUjks, 16.5.2020.

Hahn, Achim. Architekturtheorie, Wien 2008.

Hertzberger, Herman. Vom Bauen. München 1995.

Janson, Alban und Florian Tigges. Grundbegriffe der Architektur: Das Vokabular räumlicher Situationen. Basel 2013.

Koolhaas, Rem et al. Elements of Architecture. Köln 2018.

Moreau, Yves. „Publicness“. In: Schröder, Uwe und Hartwig Schneider (Hg.). Identität der Architektur, III. Funktion. Köln 2020: 98.

Olgiati, Valerio und Markus Breitschmid. Nicht-Referenzielle Architektur. Zürich 2019.

Rosa, Hartmut. Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016.

Rossi, Aldo. Die Architektur der Stadt: Skizzen zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen. Basel 2015.

Rossi, Aldo. „Das Konzept des Typus“. In: ARCH+ Nr. 37/1978: 39–40.

Wolfrum, Sophie und Alban Janson. Architektur der Stadt. Stuttgart 2015.