metroZones Schule für städtisches Handeln

Urbanes Lernen im Kontext der Demonstration Never Mind the Papers (2015)

Kathrin Wildner (Berlin) mit Zeichnungen von Eric Göngrich

 

 

Der folgende Text bezieht sich auf Ereignisse im Jahr 2015, als die Straßen und Plätze Europas mit temporären Camps und Demonstrationen von Geflüchteten besetzt waren.[1] Nach dem ersten Monat eines kollabierenden Grenzregimes, in dem immer mehr Menschen über das Mittelmeer und die nationalen Grenzen Osteuropas kamen [Hess et al. 2016: 6], herrschte in den meisten Großstädten ein regelrechter Ausnahmezustand. Gleichzeitig mit der Überforderung, dem Versagen der staatlichen Institutionen bei der Sicherung der Grundbedürfnisse der Ankommenden, gab es jedoch massive Mobilisierung freiwilliger Unterstützung sowie neue Formen der Selbstorganisation und zahlreiche lokale Solidaritätsinitiativen [Mokre 2015].

Als Teil der Berliner Gruppe metroZones habe ich im Jahr 2015 – unabhängig, aber doch parallel zu den Ereignissen an den Grenzen und in den Zentren Europas – das Modellprojekt metroZones Schule für städtisches Handeln konzipiert und koordiniert. Die Idee der Schule war es, stadttheoretische Ansätze mit Methoden der Stadtforschung und aktivistischen Praktiken zusammenzubringen, sie zu diskutieren und zu erproben, mit dem Ziel die Stadtgesellschaft aktiv mitzugestalten. Im November 2015 verband sich die metroZones Schule mit der damals aktuellen Situation der Geflüchteten bei der Demonstration Never Mind the Papers an einem Wochenende in Hamburg.

An dieser Stelle soll allerdings nicht die Situation im „Sommer der Migration“ 2015 aus einer zeitlichen Distanz oder auch vor dem Hintergrund aktueller urbaner Kämpfe und Fluchtbewegungen reflektiert werden, vielmehr möchte ich die Gelegenheit nutzen, am Beispiel der konkreten Demonstration Möglichkeiten städtischen Handelns, forschender Einmischung und künstlerischer Praktiken zur Herstellung von Räumen gesellschaftlicher Teilhabe, also zur Erprobung und Aufführung von „urban citizenship“[2] zu untersuchen.

Ausgehend von der Hypothese, dass (Staats-)Bürgerschaft ein performativer Akt ist [Isin 2017: 501ff], betrachte ich die Demonstration als einen möglichen Raum zur Ausübung von Citizenship: Wie und wo kann Bürgerschaft ausgeübt werden? Gibt es Räume, in denen Bürgerschaft ermöglicht werden kann? Welche Werkzeuge, Fähigkeiten und welches Wissen kann zur Ausübung von Bürgerschaft befähigen? Und schließlich die Frage: Wie kann Bürgerschaft als Praxis erlernt, erprobt und aufgeführt werden? Die Demonstration „Never Mind the Papers“ bietet den Anlass, im Rahmen des Projekts „metroZones Schule für städtisches Handeln“ Potenziale urbanen Lernens, konkrete performative Instrumente der Raumaneignung und damit auch bürgerschaftliches Handeln zu betrachten.

 

Abb. 1: Städtische Teilhabe und Bürger:innenschaft, Erik Göngrich, 2015[3]

 

Schule für städtisches Handeln

Die metroZones Schule für städtisches Handeln entstand aus der Zusammenarbeit zwischen der Hamburger Initiative dock europe und metroZones – Zentrum für städtische Angelegenheiten, Berlin.[4] Über einen Zeitraum von zwei Jahren trafen sich städtische Akteur:innen, Aktivist:innen und andere Stadtbewohner:innen regelmäßig zu Vorträgen, Lesegruppen und Diskussionsrunden, Workshops und einem Sommercamp, um gemeinsam über urbane Praktiken nachzudenken, voneinander zu lernen, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zu vernetzen. Die Teilnehmenden kamen aus verschiedenen Handlungsfeldern, etwa der politischen Erwachsenen- oder Jugendarbeit, selbstorganisierten Geschichtswerkstätten, aktivistischer Mieter:innenbewegung und Antifa-Organisationen. Sie arbeiteten als freie Künstler:innen, als Kulturarbeiter:innen oder Lehrer:innen in städtischen Institutionen. Die metroZones Schule war als offener Prozess einer Wissensproduktion konzipiert, in dem neues Wissen aus dem Zusammentreffen dieser unterschiedlichen Erfahrungen und Expertisen entstehen konnte. Diese Wissensproduktion, die außerhalb akademischer oder edukativer Institutionen stattfand, wurde als ein kollaborativer Prozess der Selbstermächtigung gesehen. Werkzeuge, Konzepte und Methoden der kritischen Stadtforschung sollten die Teilnehmenden zur Reflexion ihrer jeweils eigenen urbanen Praktiken und Handlungsfelder anregen.

Urbanes Lernen bezeichnet so eine Praxis, durch die Wissen geschaffen, angefochten oder transformiert wird [McFarlane 2011b]. Colin McFarlane versteht diese Praxis des Lernens auf drei Ebenen: als eine räumliche oder vielmehr Raum konstituierende Praxis, als einen Prozess der Hinterfragung von funktionalen Systemen der Wissensorganisation und als eine umfassende „Verschiebung des Blicks“ (shifts in ways of seeing), die neue Positionen der (subjektiven) Verortung beinhaltet [Mc Farlane 2011a: 363].[5]

Dieser Prozess produziert ein urbanes Wissen, das im Alltag wie auch im politischen Handeln einsetzbar ist und dabei wiederum zu einer städtischen Praxis werden kann. Städtisches Handeln verweist auf die vielgestaltigen Prozesse von Kommunikation und politischen Interaktionen, die sich im öffentlichen Raum manifestieren [Arendt 1998]. Schule bedeutet hier entsprechend das Organisieren eines Bildungsprozesses, zugleich aber auch einer Denkschule und eines Reflexionsraums, in dem zwischen verschiedenen sprachlichen und kulturellen Wissensbeständen und Erfahrungen vermittelt wird – Schule als ein Ort der Reflexion zwischen Selbstwahrnehmung, kollektiver Diskussion und urbanen Interventionen. Die metroZones Schule für städtisches Handeln wurde zu einem Think-Tank für aktuelle Stadtdebatten wie Fragen nach den Bedingungen der solidarischen Stadt, Herausforderungen von Mehrsprachigkeit oder den Möglichkeiten digitaler Technologien als Werkzeuge urbaner Vernetzung [Huffschmid, Lanz und Wildner 2017].

Ein Fokus der metroZones Schule lag auf Fragen nach der Produktion des städtischen Raums auf einer materiellen, sozialen und diskursiven Ebene: Wer ist an der Herstellung des öffentlichen Raums und gesellschaftlicher Öffentlichkeiten[6] beteiligt? Wer ist ausgeschlossen? Welche Strategien und Taktiken werden eingesetzt, um urbane Räume zu besetzen? Und wie könnte die metroZones Schule für städtisches Handeln dazu beitragen, Räume zur Ausübung von Citizenship zu öffnen?

 

 

Die Demonstration Never Mind the Papers in Hamburg (November 2015)

Nach den ersten Monaten des raumgreifenden Ausnahmezustands, dem Versagen der staatlichen Institutionen und der diesem entgegenstehenden beeindruckenden Mobilisierung von ehrenamtlicher Unterstützung und gesellschaftlicher Solidarität [Mokre 2015], änderte sich im Herbst die Situation langsam. Die Wochen des Ausnahmezustandes gingen in die zermürbenden Anforderungen eines kontinuierlich zu bewältigenden Alltags über. Die Neuankommenden begannen, sich mit anderen Gruppen von Geflüchteten und Migrant:innen zu organisieren und direkt mit der Stadt zu verhandeln. Dazu gehörte vor allem auch die Geltendmachung ihrer Rechte auf soziale und politische Teilhabe.

Im November 2015 initiierte das Bündnis Recht auf Stadt – Never Mind the Papers[7] eine Demonstration in Hamburg, bei der die Verbesserung der alltäglichen Lebensbedingungen, vor allem aber die Notwendigkeit gesellschaftlicher Teilhabe für Neuankommende im Zentrum standen. Im Aufruf zur Demonstration wurde bekräftigt, dass zum Recht auf eine angemessene Unterkunft, dem Recht auf Arbeit, dem Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung die gesellschaftliche Teilhabe ein zentrales Menschenrecht sei.

Unter dem Slogan Refugees Welcome means Equal Rights for All! nahmen etwa 10 000 Menschen an der Demonstration teil. Nicht so sehr die Größe der Demonstration erregte Aufmerksamkeit, sondern vor allem ihre Dynamik: die Multitude der Teilnehmer:innen, die Vielfalt der Sprachen, Plakate und Gesten. Es war die erste größere Demonstration am Ende des „langen Sommers der Migration“ [Hess et al. 2016], die maßgeblich von Geflüchteten mitorganisiert wurde. Bereits Wochen vor der eigentlichen Demonstration hatte sich die Koalition aus selbstorganisierten Migrant:innengruppen und Unterstützer:innen auf die Mobilisierung der Menschen konzentriert. Neben einer Reihe von Vernetzungs- und Organisationstreffen der beteiligten Initiativen wurden in den Geflüchtetenunterkünften Forderungen diskutiert, Slogans gefunden und Plakate produziert. Es wurden Sprechworkshops organisiert, um den Umgang mit Mikrofonen zu üben, sowie Shuttle-Busse bereitgestellt, damit die Menschen von ihren Unterkünften aus aktiv an der Demonstration teilnehmen konnten.

 

Abb. 2: Versammlung der Vielen, Erik Göngrich, 2016

 

 

Öffentliche Räume und Strategien der Aufführung

Die Demonstration Never Mind the Papers im November 2015 fiel zusammen mit einem Workshop-Wochenende der metroZones Schule für städtisches Handeln in Hamburg. Das bereits zu Beginn des Jahres geplante Thema dieses Schulwochenendes war die Bedeutung des öffentlichen Raums für politisches Handeln und Möglichkeiten der urbanen Intervention. Bei der Planung waren die Ereignisse im „Sommer der Migration“ nicht absehbar. Unter den Fragestellungen des städtischen Handelns und der Intervention in urbane Situationen schien es uns allerdings wichtig, auf die aktuellen Ereignisse zu reagieren und sie in die Workshops der Schule einzubauen.

Mit den Praktiken in und um die neu entstehenden Aufnahmelager, vor allem aber mit den informellen Platzbesetzungen und Camps in der Stadt wie der Besetzung des Oranienplatzes in Berlin oder dem „Lampedusa-Zelt“ in Hamburg [8] wurden neue Formen der temporären räumlichen Aneignung, der gesellschaftlichen Aushandlung und der Ausübung von Bürgerschaft im städtischen Raum inszeniert und erprobt [Fontanari 2016].[9] Im Sinne des städtischen Handelns und der gesellschaftlichen Produktion des Raums trug die Bewegung der Geflüchteten maßgeblich zu einer Repolitisierung der städtischen Debatte und der urban citizenship bei [Hess und Lebuhn 2014; Lanz 2015: 487].

 

Abb. 3: Öffentlicher Raum, Erik Göngrich, 2016

 

Im Workshop der metroZones Schule wurden zunächst anhand theoretischer Inputs die gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion von urbanem Raum betrachtet [Lefebvre 1991], vor allem aber die Diskussion über und im öffentlichen Raum selbst als ein Aushandlungsprozess zwischen widersprüchlichen Positionen analysiert [Delgado 1999; Wildner 2003]. In den Diskussionen wurden Demonstrationen als ein bewährtes Mittel der politischen Intervention beschrieben, bei der die Zivilgesellschaft Kollektivität auf der Straße praktiziert und Dissens sichtbar gemacht wird.

 

Abb. 4 - 6: Interventionen im öffentlichen Raum, Erik Göngrich, 2015

 

Neben der Diskussion theoretischer Konzepte lag ein Hauptaugenmerk dieser Schuleinheit auf der Identifizierung und Beschreibung von Instrumenten und Praktiken, die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum erzeugen können. Die urbane Praxis des Demonstrierens, damit auch die konkrete Demonstration Never Mind the Papers am kommenden Tag, schien ein perfekter Moment zu sein, um Aspekte städtischen Handelns zu diskutieren und zu erproben.

Im Praxisteil des Schulworkshops teilten wir uns in drei Gruppen auf, um verschiedene Perspektiven einzunehmen und uns jeweils auf konkrete Aspekte der Demonstration zu fokussieren. Am ersten Tag entwickelten wir die Werkzeuge, mit dem Ziel, sie am folgenden Samstag auf der Demonstration einzusetzen. Schon am ersten Tag dieses Schulworkshops führten wir intensive Diskussionen, ob und wenn wie wir Elemente aus dem Workshop auf die Demonstration tragen bzw. auf der Demonstration erproben könnten. Einige der Schulteilnehmer:innen empfanden ein großes Unbehagen, die „reale“ Demonstration der Geflüchteten und Unterstützenden für eine „Praxisübung urbaner Interventionen“ zu nutzen. Weniger verfänglich schien es, eine beobachtende anstatt einer intervenierenden Position einzunehmen.

Dementsprechend konzentrierte sich eine Gruppe auf die Beobachtung, wie sich Debatten und politische Forderungen der Demonstrierenden im urbanen Raum manifestierten. Unter der Leitung der Kulturwissenschaftlerin Anne Huffschmid arbeitete diese Gruppe mit Beobachtungsprotokollen und Notationsformaten (Fotografie, Mapping, Notizen, Tonaufnahmen), um so die materiellen Infrastrukturen (Lautsprecherwagen, Transparente, Plakate), aber auch Slogans und Rufe aufzuzeichnen. Es entstand eine Dokumentation von Elementen der Protestkultur dieser konkreten Demonstration. Die Idee dieses Ansatzes war es, ein Register von Aussagen und Formaten zu erstellen, das später für eine diskursanalytische Betrachtung genutzt werden könnte, die über die konkrete Situation der Demonstration in Hamburg hinausgehen und in konzeptionelle Debatten über Werkzeuge zur Forderung und Behauptung, zu Möglichkeiten und Grenzen urbaner Bürgerschaft einfließen könnte [Lebuhn 2013; vgl. auch Huffschmid und Wildner 2009].

Eine zweite Gruppe beschäftigte sich mit dem Thema der performativen Sprechakte.[10] In diesem Workshop reflektierten die Choreografin Liz Rech und die Mediatorin Petra Barz körperliche Aspekte von performativen Interventionen oder „sozialen Choreographien“ [Rech 2015: 77] im öffentlichen Raum.[11] Anhand von Beispielen künstlerischer Interventionen zeigten sie die mögliche Vielfalt im Zusammenspiel von Performances und Aktivismus. Als praktischen Input leiteten sie ein Sprechtraining an. Viele der Teilnehmenden des Workshops waren es nicht gewohnt, laut, an ein Publikum gerichtet zu sprechen, und hörten zum ersten Mal ihre eigene Stimme im Raum. Daraus ergaben sich Fragen: Wer spricht? Wer hat eine Stimme? Wer wird zum Reden eingeladen? Und wer beansprucht das Recht zu sprechen?

Bei der Demonstration am folgenden Tag fokussierten einige der Workshopteilnehmer:innen auf die Bedeutung von Sprache und Körper im öffentlichen Raum. Sie konzentrierten sich auf die Moderation der Demonstration und stellten fest, dass eine Gruppe von Aktivist:innen nicht nur die Reden der verschiedenen Communities auf dem Lautsprecherwagen koordinierte, sondern dass während des Demonstrationszuges ein weiteres performatives Werkzeug eingesetzt wurde: Ein mobiles Mikrofon wanderte, angeleitet von den Moderatorinnen, durch den Demonstrationszug auf der Straße und ermöglichte es noch viel mehr Menschen, sich einzumischen und aktiv teilzunehmen. Die Demonstrationsteilnehmer:innen hatten die Möglichkeit, über ihre Situation, ihren Alltag, aber auch ihre Bedürfnisse und Wünsche zu sprechen. Sie hatten eine Stimme. Gerade in diesen Momenten zeigte sich die Bedeutung der körperlichen Präsenz und des Sprechens – wie des Zuhörens – im öffentlichen Raum als ein zentrales Moment von Kollektivität und damit der politischen Teilhabe.

Eine dritte Gruppe schließlich wurde von dem Künstler Erik Göngrich angeleitet, der sich auf Schrift und Zeichen als Werkzeuge der Intervention in den öffentlichen Raum konzentrierte. Der Workshop begann mit Zeichenübungen, bei denen einfache Protesttafeln angefertigt wurden, mit denen die Teilnehmer:innen zunächst in den Innenräumen agierten.

 

Abb. 7: Plakataktion, Schule für städtisches Handeln, Kathrin Wildner, 2015

 

In einem weiteren Schritt wurden die Tafeln im Garten und auf den Straßen rund um den Workshop-Ort, ein Kulturzentrum in Wilhelmsburg am Stadtrand Hamburgs, getestet. In dieser Situation entstand zunächst Unbehagen: Was will ich sagen? Was passiert, wenn ich meine Protesttafel, einen Slogan, als Statement in den öffentlichen Raum trage? Wie sichtbar oder angreifbar bin ich?, dann eine zunehmend kontroverse Diskussion über die Frage, wie die metroZones Schule an der Demonstration am nächsten Tag teilnehmen könnte und sollte. Insbesondere wurde die Bedeutung der Intervention diskutiert: Welche Art Slogans könnte man erfinden, welche Botschaft würde man sich aneignen? Und vor allem: Wäre es nicht eine unlautere Aneignung oder gar ein Missbrauch der Flüchtlingssache, im Rahmen der metroZones Schule eine Intervention der Demonstration zu unternehmen?

Einige der Schulteilnehmenden wollten sich in der Folge weder am Workshop noch an der Demonstration beteiligen. Schließlich beschlossen einige andere Mitglieder der Gruppe, auf einem lokalen Marktplatz, am Stadtrand, die Gelegenheit und den Anlass der kommenden Demonstration zu nutzen, um mit den Menschen über die Situation der Geflüchteten zu sprechen. Sie boten an, eine Botschaft auf eine Protesttafel zu schreiben und diese am nächsten Tag zur Demonstration ins Stadtzentrum zu tragen. Es entstanden angeregte Diskussionen. Die Einladung, die Stimmen vom Stadtrand ins Zentrum zu tragen, wurde von einigen Menschen auf dem Marktplatz sehr gerne angenommen.

 

Abb. 8: Plakataktion auf dem Marktplatz, Kathrin Wildner, 2015

 

Von den positiven Reaktionen motiviert, nahmen die Teilnehmenden der Schule schließlich doch an der Demonstration teil und brachten die Botschaften vom Rand der Stadt ins Zentrum. So waren auch Aussagen von Menschen, die nicht selbst an der Demonstration teilnehmen konnten, dort präsent. Durch diese Verschiebung der Sprechorte angeregt, ließen sich Fragen von Zugänglichkeit, Sichtbarkeit und mögliche Akte der Beteiligung erneut diskutieren.

 

Abb. 9 und 10: Plakate auf dem Demonstrationszug, Kathrin Wildner, 2015

 

 

Aufführung von Citizenship

Zurück zu der Frage, ob und wie ‚urban citizenship‘ erlernt, erprobt und aufgeführt werden kann. Eine erste Annahme ist, dass durch die Beteiligung an der Konzeption, Konstruktion und des Aushandelns von urbanem Raum Menschen zu politischen Subjekten werden [Irazabal 2008: 15]. Um das Ausführen oder Ausüben (enacting) der (Staats-)Bürger:innenschaft im Weiteren als einen performativen Akt zu verstehen, müssen wir uns die Zeit und den Raum genau ansehen, in denen diese Handlungen stattfinden, oder – wie Engin Isin es ausdrückt: „… die performativen Akte betrachten, durch die Menschen zu Bürger:innen werden, indem sie Rechte und Pflichten ausüben oder einfordern“ [Isin 2017: 520]. Ein weiteres grundlegendes Merkmal eines politischen Subjekts ist es, Rechte einzufordern [Isin 2017: 501]. Hannah Arendts Verweis auf das Recht, Rechte zu haben, um die Zugehörigkeit zu einer politischen Gemeinschaft oder vielmehr einer Nation zu manifestieren [Arendt 1998], wird hier noch einmal erweitert. Es geht nicht nur darum, Rechte „verliehen“ (sic) zu bekommen, oft oberflächliche Zugeständnisse im Sinne einer (passiven) ‚Integration‘ (integriert werden) in das dominante kulturelle System, sondern es verschiebt sich vielmehr die Sprechposition. Das Subjekt wird im Moment der aktiven Einforderung von Rechten, mit dem Recht darauf, Rechte zu formulieren, zum politischen Subjekt, zum Teil der Gemeinschaft. Citizenship oder (Staats-)Bürger:innenschaft ist durch diesen performativen Prozess des Handelns (und Sprechens), der Einforderung von Rechten markiert [Isin 2017: 504].

(Staats-)Bürger:innenschaft ist demnach also keine formale, sondern eine inhaltliche Position, die sich auf eine Reihe von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rechten wie etwa das Recht auf Unterkunft, Wasser, Bildung usw. bezieht [Miraftab und Wills 2005: 201] und darüber hinausgeht. (Staats-)Bürger:innenschaft entspricht nicht einem Status (auf Papier), sondern meint eine permanente Auseinandersetzung, einen temporären und sich verändernden Zustand, der in Zeit und Raum gelebt wird. Diese Ansätze einer partizipativen, inklusiven und engagierten Definition von Staatsbürger:innenschaft verweisen auf pluralistische Modelle und performative Räume von urban citizenship [Miraftab und Wills 2005: 202].

Eine Demonstration lässt sich dementsprechend als ein temporärer Raum von citizenship beschreiben, indem das Teil-Sein einer Multitude sowie das Recht, zu sprechen und gehört zu werden, zusammenkommen. Die Demonstration Never Mind the Papers bot einen solchen Raum für diejenigen, Geflüchtete und Neuankommende, die ohne akzeptierte Staatsbürger:innenschaft üblicherweise keine Stimme haben und von den gesellschaftlichen Grundrechten ausgeschlossen sind. Mit der Demonstration, der Aneignung des urbanen Raums durch eine große Gruppe von Menschen, die mitten in der Hamburger Einkaufsmeile mit Plakaten, Transparenten und lauten Stimmen ihre Forderungen auf Rechte öffentlich machte, stellte sich ein – zumindest temporäres – Gefühl von Gemeinschaft her. Durch den Akt der Demonstration manifestierten sich die Teilnehmer:innen kollektiv im Stadtraum, machten die Straßen zu einer für alle sichtbaren Bühne für ihre Forderungen und „verwandeln [sie] in temporäre Orte städtischer Bürger:innenschaft“ [Lanz 2015: 489].

Abb. 11: Versammlung, Erik Göngrich, 2021

 

Die Demonstration Never Mind the Papers war ein Anlass für die metroZones Schule des städtischen Handelns, um über die Bedeutung von öffentlichem Raum, Potenzialen und Grenzen performativer Interventionen zu diskutieren. Gleichzeitig lieferte sie ein lokales Setting für die Beobachtung und die Ausübung konkreter Interventionen, deren Wirkmacht unmittelbar deutlich wurde. Über den Austausch von Erfahrungen, die Reflexion spezifischer Werkzeuge und die Diskussion von selbstbestimmtem politischen Engagement öffnete die metroZones Schule selbst einen Raum für städtisches Handeln.

Abb. 12: Aktive Theorie, Erik Göngrich, 2021

Literatur

Arendt, Hannah. The Human Condition. Chicago 1998.

Arendt, Hannah. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 8. Aufl. München 2001.

Austin, John L. How to do Things with Words. Oxford 1962.

Cvejic, Bojana und Ana Vujanovic. Public Sphere by Performance. Berlin 2015.

Delgado, Manuel. El Animal Public: Hacia una antropología de los espacios urbanos. Barcelona 1999.

Fontanari, Elena. „Looking for Neverland. The Experience of the Group ‚Lampedusa in Berlin‘ and the Refugee Protest of Oranienplatz“. In: Witnessing the Transition: Moments in the Long Summer of Migration. Herausgegeben von Gökce Yurdakul et al. Berlin 2016: 15–35.

Hess, Sabine und Henrik Lebuhn. „Politiken der Bürgerschaft. Zur Forschungsdebatte um Migration, Stadt und Citizenship“. In: Sub/urban 2, 3/2014: 11–34.

Hess, Sabine (Hg.). Der lange Sommer der Migration. Berlin 2016.

Hildebrandt, Paula (Hg.). Performing Citizenship. London 2019.

Huffschmid, Anne und Kathrin Wildner. „Räume sprechen, Diskurse verorten? Überlegungen zu einer transdisziplinären Ethnografie“. In: Forum Qualitative Sozialforschung 10, 3/2009, Art. 25, https://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/1224/283.

Huffschmid, Anne, Stephan Lanz und Kathrin Wildner. „Schule machen. Kosmopolis, urbanes Lernen und städtisches Handeln“. In: metroZones schoolbook expanded, 2017, https://schoolbook.metrozones.info/00_settings/

Irazabal, Clara. „Citizenship, Democracy, and Public Space in Latin America“. In: Ordinary Places, Extraordinary Events. Citizenship, Democracy, and Public Space in Latin America. Herausgegeben von Clara Irazabal. New York 2008: 11–35.

Isin, Engin. „Performative Citizenship“. In: Oxford Handbook of Citizenship. Herausgegeben von Ayelet Shachar, Rainer Bauböck, Irene Bloemraad und Maarten Vink. Oxford 2017: 500–523.

Lanz, Stephan. „Refuges und die Stadt“. In: The Dialogic City – Berlin Wird Berlin. Herausgegeben von Arno Brandelhuber, Florian Herzwech und Thomas Mayfried. Berlin 2015: 487–495.

Law, John und John Urry. „Enacting the Social“. In: Economy and Society 33, 3 August 2004: 390–410.

Lebuhn, Henrik. „Local Border Practices and Urban Citizenship in Europe“. In: Analysis of Urban Trends, Culture, Theory, Policy, Action 17, 1/2013: 37–51.

Lefebvre, Henri. Production of Space. Oxford 1991.

McFarlane, Colin. „The City as a Machine for Learning“. In: Royal Geographical Society 36/2011a: 360–376.

McFarlane, Colin. Learning the City. Knowledge and Translocal Assemblage. Oxford 2011b.

Miraftab, Faranak und Shana Wills. „Insurgency and Spaces of Active Citizenship. The Story of Western Cape Anti-Eviction Campaign (AEC) in South Africa“. In: Journal of Planning, Education and Research 25/2005: 200–217.

Mokre, Monika. Solidarität als Übersetzung. Überlegungen zum Refugee Protest Camp Vienna. Wien 2015.

Rech, Liz. Körper und Öffentlichkeit – zur performativen Dimension städtischen Handelns. Metrozones-Schule für städtisches Handeln 2015. Online-Dossier 2016, https://www.metrozones.info/wp-content/uploads/2016/08/mZ-Schule-fuer-staedtisches-Handeln-Dossier-2015.pdf, 18.12.2022.

Wildner, Kathrin. Öffentlicher Raum als Verhandlungsraum. Transform eipcp, 2003, http://transform.eipcp.net/transversal/1203/wildner/de.html.

Wildner, Kathrin und Hilke Berger. Das Prinzip des öffentlichen Raums, Bundeszentrale für politische Bildung, 2018, https://www.bpb.de/themen/stadt-land/stadt-und-gesellschaft/216873/das-prinzip-des-oeffentlichen-raums/.

[1] Dies ist eine aktualisierte und übersetzte Fassung des Artikels „Urban Citizenship – Spaces for Enacting Rights in Public Space“. In: Hildebrandt, Paula et al. Performing Citizenship. Bodies, Agencies, Limitations. Palgrave 2019, https://library.oapen.org/handle/20.500.12657/22830, 15.12.2022.

[2] Das Konzept der „urban citizenship“ wurde im Kontext migrationswissenschaftlicher und kritischer Stadtforschung als Antwort auf die Frage nach der lokalen Dimension von gesellschaftlicher Teilhabe entwickelt [Lebuhn 2013; Hess et al. 2016]. „Urban citizenship“ – problematisch mit dem deutschen Begriff der „Staatsbürgerschaft“ übersetzt – wird hier nicht als eine formale, institutionelle und normative Regelung oder Arrangement (nationaler) Regierungen verstanden, sondern als ein aktiver Prozess von Handlung und Aushandlung. Ein Prozess, der als solcher von verschiedenen Akteuren und Gruppen als das Recht auf Teilhabe eingefordert wird [Isin 2017; Cvejic und Vujanovic 2015].

[3] Der Berliner Künstler Erik Göngrich begleitete die metroZones Schule für städtisches Handeln 2015 und 2016 mit grafischen Protokollen und Kommentaren. Seine visualisierten Beobachtungen und Interventionen beschreibt er so: „Es geht nicht so sehr um das Lernen, sondern ich versuche durch meine Zeichnungen zu verstehen [...] Ich versuche, die Situation auf eine subjektive und provokative Weise zusammenzufassen.“ Eric Göngrich, https://vimeo.com/209878106, 15.12.2022.

[4] metroZones Schule für städtisches Handeln (2015/16) war ein Modellprojekt von metroZones – Zentrum für städtische Angelegenheiten (www.metrozones.info) und dock-europe (www.dock-europe.net), gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung.

[5] „Despite this surge in critical literature on travelling urban knowledge and policy learning, there is little attempt to consider how learning itself might be conceptualized. I want to make three arguments in this respect. First, learning is always a process of translation. This underlines the importance of the spatialities of learning; the spaces through which knowledge moves are not simply a supplement to learning, but constitutive of it. Second, and following on from this, learning is not simply a process of accessing stored data, but depends on the (re)construction of functional systems that coordinate different domains. Third, while learning can be structured through the inculcation of facts, rules, ideas or policy models, in substantive practice learning operates as the ‚education of attention‘. [Gibson 1979; Ingold 2000]. This means that learning entails shifts in ways of seeing, where ‚ways of seeing‘ is defined not simply as an optical visuality, but as haptic immersion.“ [McFarlane 2011a: 363].

[6] Zur Diskussion um öffentlichen Raum vgl. u. a. Wildner und Berger 2018.

[7] Never Mind the Papers ist ein in Hamburg ansässiges Netzwerk von Flüchtlingsaktivisten,

Unterstützern, der Bewegung „Recht auf Stadt“, Gewerkschaftsaktivisten und anderen linken Initiativen, die sich für eine barrierefreie und gerechte Stadt für alle einsetzen, https://nevermindthepapers.noblogs.org, 13.12.2022.

[8] Der Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg war zwischen September 2012 und April 2014 in Form eines Camps als selbstorganisierter Widerstand von Geflüchteten besetzt, um den Forderungen nach Abschaffung der Residenzpflicht und dem Arbeitsverbot, sowie einer EU-weiten Freizügigkeit Nachdruck zu verleihen. In Hamburg errichtete die „Lampedusa-Gruppe“ – eine Gruppe Geflüchteter, die seit 2012 in Hamburg für eine kollektive Anerkennung von Rechten kämpfte – in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs 2013 das „Lampedusa-Zelt“ als Informations- und Protestort für Flüchtlinge und solidarische Menschen. Die Camps wie das Zelt waren bzw. sind sichtbare Manifestationen der Forderung gesellschaftlicher Teilhabe im Stadtraum.

[9] Dies verstanden im Sinne der „Performing Citizenship“ und der Artikulation einer partizipativen Teilhabe an (Stadt-)Gesellschaft, die ihren Wunsch und ihr Recht auf Beteiligung mit performativen Mitteln in die Praxis umsetzt. Es handelt sich also um eine Auseinandersetzung in Form künstlerischer Praktiken und so werden diese mit Begriffen aus dem Bereich der aufführenden Künste beschrieben [Hildebrandt et al. 2019, https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-319-97502-3_1]. Die Sozialwissenschaftler John Law und John Urry fordern eine Reflexion der Rolle der Forscher:innen in der Untersuchung von „Realitäten und sozialen Welten“ unter Einbeziehung von „messy methods“ und sprechen vom „enacting the social“, einer Praxis der aktiven Präsenz der Forscher:innen [Law /Urry 2004].

[10] Angelehnt an John Austins Theorie der Sprechakte [Austin 1962] wird hier die Bedeutung des Sprechens nicht nur als Beschreibung, sondern als (performative) Herstellung von Situationen oder auch als konstituierender Akt des Handelns unterstrichen.

[11] Für weitere Informationen über den Workshop siehe Rech 2015.

 

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