Infra-Strukturen, Netzwerke und Plattformen
Räumliche und andere Dispositionen kultureller und künstlerischer Praxis
Barbara Büscher (Leipzig/Köln)
Der Begriff „kulturelle Infrastruktur“ setzte im Titel unserer Tagung zunächst ein Zeichen dafür, dass wir uns nicht allein mit einzelnen Gebäuden für die Aufführungskünste oder einzelnen Architekturen von Kunst-/Kulturhäusern beschäftigen wollen, sondern dass deren Situierung bzw. Platzierung in verschiedenen Zonen urbaner Räume ebenso wie ihre Verteilung jenseits städtischer Zentren unsere Untersuchungen erweitern. Der inzwischen im deutschsprachigen Raum geläufige Gebrauch des Begriffs, kulturpolitisch kontextualisiert, basiert auf Ideen von Grundversorgung und staatlich geregelter Förderung von Strukturen und Institutionen, die kulturelles und künstlerisches Arbeiten, Präsentieren und Produzieren, Anschauen und Mitmachen ermöglichen sollen, die also den Hinter- oder Untergrund solcher Aktivitäten bilden.
Was aber den Aufbau, den Charakter und die Zugänglichkeit kultureller Infrastruktur sowie von Infrastruktur im allgemeinen – Verkehrs- und Transitwege, Kapital- und Warenströme, Mobilisierung von Menschen/Arbeitskraft, politische Markierungen – antreibt, eine solche Erweiterung der Perspektive führt zu sehr viel weiter reichenden Fragen, die sich in etwa seit den 2000er-Jahren als Fokus in verschiedenen Wissenschaftsfeldern herauskristallisiert haben. Dazu gehören Untersuchungen im Bereich der Sozialwissenschaften (social sciences), der Ethnologie/Anthropologie, der Medienwissenschaften und auch der Kunsttheorie und curatorial studies. Veränderungen und Verschiebungen – sichtbare und unsichtbare, von der globalisierten Ökonomie gesteuerte oder von unten, aus lokalen Communities betriebene – wurden zum Gegenstand von Fallstudien und strukturellen Analysen.
Nicht erst seit der Covid-Pandemie und der Rede von der Aufrechterhaltung ‚kritischer‘ Infrastruktur [z. B. Folkers 2020] ist der Begriff, die damit verbundene Geschichte und gesellschaftliche Verantwortung für Anlagen und Einrichtungen, die den Alltag, die Art und Weise des (Zusammen-)Lebens grundieren und dessen Basis bilden, in das Bewusstsein einer öffentlichen Diskussion geraten. Dringlichkeit erhalten solche Forschungen durch die grundlegende Bedeutung von Infrastruktur(en) für den Zugang zu Ressourcen aller Art – von Wasser und Elektrizität bis hin zu Bildung und Kultur – und als Elemente, die im ökologischen Sinne neu konfiguriert werden müssen.[1]
Infrastruktur wurde auch zum Thema künstlerischer und kuratorischer Projekte in Theater und visueller Kunst: Die Galerie der HGB Leipzig und die der Akademie der Künste in Wien haben dazu 2022 ein zweiteiliges Ausstellungsprojekt und eine Tagung unter dem Titel Broken Relations[2] veranstaltet. Das Forum Freies Theater Düsseldorf hat mit dem kuratorischen Programm „Stadt als Fabrik. Wie Logistik und Masterpläne das Leben in der Stadt verändern“[3] einen reflexiven Rahmen für den Umzug in das Gebäude der ehemaligen städtischen Hauptpost und die mit deren Verlagerung angezeigten logistischen Veränderungen im urbanen Raum geschaffen.
Diese neuerliche Beschäftigung mit Infrastruktur(en) ist nicht zuletzt durch die immensen Verschiebungen und Überlagerungen motiviert, die sich aus der Etablierung als immateriell erscheinender, im Alltag nur in ihren Effekten wahrnehmbaren, digitalen/medialen Strukturen ergeben. Sie bilden nicht mehr eine eindeutig im Stadtraum zu verortende materielle Schicht, sondern konstituieren eine besondere Form kultureller Infrastruktur aus Daten und Signalen, für deren Nutzung ebenfalls Fragen nach Macht und Aneignung, nach Zugänglichkeit und Programmierung zu stellen sind. Der Begriff Infrastruktur trifft sich hier mit denen des Netzwerks und der Plattformen.
Mit den folgenden Lektüren und daraus resultierenden Überlegungen möchte ich in einigen Aspekten dieser unterschiedlichen Zugänge zu Infrastrukturfragen nachgehen und sie zusammenfassend mit der Frage verbinden, wie solche analytischen Ansätze in unsere Untersuchungen eingehen können.
I. Infra-Struktur(en) – ein Begriff in unterschiedlichen diskursiven Kontexten
Der „Keyword“-Beitrag von Ashley Carse, mit dem ich beginnen möchte, rollt eine Reihe höchst interessanter Aspekte auf, die auch in anderen historisch orientierten und auf den Wechsel der Bedeutungen ausgerichteten Texten ausgeführt werden. Die Untersuchung von „Keywords“, erläutert die Autorin, versteht sie im Zusammenhang und als Fortschreibung eines Projekts, dass der Kulturtheoretiker Raymond Williams in den 1970er-Jahren begonnen hat. In diesem Projekt wird versucht, zentrale Begriffe des je historisch determinierten, gesellschaftlichen oder öffentlichen Sprechens (in diesem Fall in der englischen Sprache) als Filter für die Beobachtung sozialer, ökonomischer und politischer Verschiebungen zu untersuchen [Carse 2017: 28f].
In diesem Sinne entfaltet die Autorin die Bedeutung des Begriffs Infrastruktur weniger von der Etymologie her, sondern vor allem von seinem Gebrauch und dessen unterschiedlichen Kontexten bzw. den sich verändernden gesellschaftlichen Feldern unterschiedlicher Reichweite, in denen er zirkuliert. Sie zeigt, wie der Begriff „Infrastruktur“ im frühen 20. Jahrhundert – mit der fortschreitenden Industrialisierung und deren logistischen Anforderungen – zur Bezeichnung für diese zugrundeliegenden, oft unsichtbaren Strukturen Einzug in den ingenieurwissenschaftlichen Kontext hielt.
Der Begriff Infrastruktur, der eine semantische Schnittstelle mit dem des Systems und des Netzwerks hat, unterscheidet sich unter anderem darin, dass damit insbesondere hierarchische Beziehungen bezeichnet werden: „As the prefix infra – meaning below, beneath or within – suggests, infrastructure diverges from system and network by suggesting relationships of depth and hierarchy.“ [Carse 2017: 27]
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts – so zeigt die Autorin – erweitert der Begriff sein Bedeutungsfeld wesentlich über das Ingenieurwesen hinaus und wird dann als „social overhead capital, meaning capital goods like roads, schools, hospitals, and public parks that are broadly available to the public and typically provided by the government“ verstanden [Carse 2017: 33]. Die beiden Merkmale der öffentlichen Zugänglichkeit und der Bereitstellung durch die Regierung/den Staat sind in den Beschreibungen anderer Autoren [z. B. Van Laak 1999: 289; Wagner 2010: 12] entscheidend auch für das Verständnis und die Entwicklungen in Westdeutschland seit den 1960er-Jahren, in dessen Gefolge „kulturelle Infrastruktur“ zum Gegenstand unter anderem von politischer Programmatik wird.
So wie Carse an anderer Stelle festhält, dass Infrastrukturen auf Standardisierungen[4] angelegt sind, die heute – darauf werden andere Autor:innen explizit hinweisen [Easterling 2016; Star 1999] – zu einem globalen System von Normierungen tendieren, hat der Historiker Van Laak allgemeiner festgehalten: „Infrastruktur ließe sich auch als das Stabile oder Immobile definieren, das notwendig ist, um Fließendes, Mobilität oder Kommunikation zu ermöglichen.“ [Van Laak 2020: 8]
Er weist zudem darauf hin, dass Infrastrukturen erst durch Nutzung und Gebrauch zu solchen gemacht werden. Da sie eine wesentliche Basis des Alltagslebens bilden, erscheinen sie als transparent und werden erst im Fall von Störungen sichtbar [Van Laak 2020: 7]. Davor oder jenseits dieser Funktionalität steht allerdings die Frage des Zugangs und der Zugänglichkeit. Und so stellt Van Laak auch zu Beginn seiner Darstellung fest, dass es einen gravierenden Unterschied macht, „ob der Begriff als Kategorie einer bestimmten Politik ‚von oben‘ oder aber als Kennzeichnung einer Praxis ‚von unten‘ verstanden wird“ [Van Laak 2020: 6].
Diese Unterscheidung und sich daraus ergebende Fragestellungen werden unter anderem für die Auswahl von Fallstudien in der Ethnologie oder in aktuellen Diskussionen um kulturelle Infrastruktur und Infrastrukturen von Kunstinstitutionen relevant. Und sie werden dort sehr explizit, wo Infrastrukturen als Teil staatlicher Macht und Repression eingesetzt werden.
Infrastrukturen und soziale, politische Konstellationen
Im historischen Verlauf infrastruktureller Entwicklung liegt – so zeigt wiederum Carse – sowohl technisch als auch ideologisch ein wesentliches Element des Kolonialismus und der Politik einer kolonial gesteuerten Entwicklung [Carse 2017: 32]. Das gegenwärtige Funktionieren und die Steuerung von Infrastruktur als Teil der globalisierten, kapitalistischen Ökonomie (Stichwort extraction) wird in diesem Zusammenhang grundlegend kritisiert [Carse 2017: 34]. Oder wie es Andreas Folkers formuliert: „Seit jeher besteht eine gewisse Affinität zwischen Infrastruktur und Macht – jedes Imperium ist auf die infrastrukturelle Durchdringung des von ihm okkupierten Gebietes angewiesen, und die Grenzen seiner Infrastrukturnetze sind zugleich auch die Grenzen seiner Macht.“ [Folkers 2020: 103]
Anknüpfend an diese Kritik werden in den Sozialwissenschaften und der Ethnologie – vor allem seit den 2000er-Jahren, wie Ashley Carse festhält – Untersuchungen angestellt, die die Frage der Machtverhältnisse in Fallstudien präzisieren und anhand von Infrastrukturentwicklung soziale Beziehungen, politische Formationen und Belange des Umweltschutzes analysieren. So etwa zeigt Ash Amin an einer Fallstudie zu Landbesetzung und informeller Besiedlung in Belo Horizonte (Brasilien), wie Infrastruktur als eine Praxis von unten verstanden werden kann und wie eng deren Etablierung mit der Herausbildung sozialer Beziehungen verbunden ist:
Hier wie in anderen Untersuchungen zur urbanen Situation und Infrastruktur in Städten des globalen Südens bzw. Afrikas, in denen der Zugang zu Infrastrukturen aller Art nach wie vor ein Privileg und einem großen Teil der Bevölkerung verwehrt ist [s. auch u. a. Simone 2004[5]], tritt hervor, wie sehr Infrastruktur als „Praxis von unten“ mit Selbstorganisation, Selbsttätigkeit, nachbarschaftlichen Beziehungen verbunden ist.[6] Amin konstatiert das zu Beginn seines Textes für unterschiedliche Untersuchungen, die er zitiert: „The urban infrastructures are shown to be social in every respect.“ [Amin 2014: 138] Dazu gehört auch deren symbolische Macht sowie ästhetische Qualitäten, die eine affektive Verbundenheit und die Identität einer Community oder auch eines städtischen Zusammenhangs begründen können. Amin bezieht sich hier auf einen Text des Ethnologen Brian Larkin, in dem er neben die Sicht auf Infrastrukturen als Teil eines technopolitischen Apparats jene von deren Form und poetics stellt:
Dieser Aspekt lässt sich in spezifischer Weise an Manifestationen kultureller Infrastruktur studieren, die in europäischen Großstädten als Markierungen von deren Bedeutsamkeit und Finanzkraft, geplant von international renommierten Architekt:innen, entstehen oder entstanden (Guggenheim Bilbao, Elbphilharmonie Hamburg, Centre Pompidou Paris – um nur wenige zu nennen).
Infrastrukturen und mediale Netzwerke
Lilian Kroth hat in einem jüngst erschienenen Text den Begriff der Infrastruktur zu zwei verwandten Begriffen sowie einem je spezifischen Kontext ins Verhältnis gesetzt: zu dem der Struktur, wie ihn Michel Serres versteht, und zu dem des Netzwerks, wie ihn Latour und die ANT verstehen [Kroth 2022]. Sie fasst die Schnittstelle, von der ja Carse schon sprach, zwischen Netzwerk und Infra-Struktur so zusammen, dass gerade die im vorigen Abschnitt deutlich gewordenen sozialen Relationen hervortreten:
„Unconnectedness“ verweist zugleich auf eine Dimension infrastruktureller Konstellationen, die in medienwissenschaftlichen und urbanistischen Kontexten fokussiert werden, welche sich für die durch Digitalisierung veränderten und in neuen Dimensionen erweiterten Infra-Strukturen des globalen Verkehrs, der globalen Kommunikation interessieren. Auch die Medienwissenschaftlerin Gabriele Schabacher, die die Relationen von Architektur, Infrastruktur und Medialität thematisiert, stellt die Organisation und Regelung sozialer Prozesse als Aufgabe von Infra-Strukturen neben die der technisch-räumlichen Strukturierung. Ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Un-/Sichtbarkeit urbaner Strukturen, in die Infra-Struktur eingelassen ist, führt sie zu Argumenten – der Akteur-Netzwerk-Theorie folgend[7] –, die die materielle und symbolische Seite von Infrastruktur auf verschiedenen Ebenen auffächert bzw. zusammenführt:
So wie sich ihre Überlegungen zunächst auf das Gebäude als Gegenstand von Architektur beziehen – und damit den Rahmen der Betrachtung enger ziehen, als es die im vorigen Abschnitt vorgestellten Texte tun –, wird hier allerdings deutlich, dass infrastrukturelle Untersuchung sich ebenso auf den urbanen Raum als Ganzen oder einen noch weiter zu denkenden „infrastructural space“ (Keller Easterling) denken lässt. Dabei spielt das Prozesshafte der Konstruktion und Planung ebenso eine Rolle wie der Prozess von Veränderungen und Verschiebungen, die sich aus dem Gebrauch ergeben. Und es kommt erneut der Begriff des Netzwerks ins Spiel, indem Schabacher als wesentliches Merkmal der Medialität von Architektur deren Netzhaftigkeit beschreibt, mit der sowohl „die räumlichen Verschaltungen innerhalb eines einzelnen Gebäudes“ als auch „die Zusammenhänge des städtischen Raums“ gemeint seien [Schabacher 2015: 83]. In einem 2022 erschienenen Band, der unter dem Titel Infrastruktur-Arbeit expliziter dem Verhältnis von Infrastrukturen zu Medien- und Kulturtechniken[8] nachgeht, führt sie die Idee, Infrastrukturen als prozessual zu verstehen, weiter aus:
Ein solcher Blickwechsel, der Stabilisierung und Veränderung von Infrastrukturen als stetigen Prozess fokussiert, lässt sich mit der in anderen Untersuchungen bzw. Texten hervorgehobenen konstitutiven Bedeutung von Nutzung und Gebrauchsweisen verbinden. Grundlegend zu untersuchen und zu reflektieren wären im Anschluss an die eher summarischen Überlegungen von Schabacher, wie sie hier zitiert werden, Aspekte neuer infrastruktureller Konstellationen, die mit der Digitalisierung relevant geworden sind.
Als „platform urbanization“ bezeichnen Filippo Bignami und Naomi C. Hanakata diese Verschiebungen und thematisieren ihre Auswirkungen auf den physischen städtischen Raum wie auf dessen Erweiterung in einen virtuellen.
Globale Dimensionen des infrastrukturellen Raums
Wenn man den Blick auf diese aktuellen Neukonfigurationen von Infrastrukturen in Verbindung mit global agierenden Plattformen richtet, so ist auch das, was die Architektin und Urbanistin Keller Easterling als „extrastatecraft“ untersucht und kategorisiert hat, sehr aufschlussreich: Einerseits folgt ihre Argumentation der Analyse von global agierenden Netzwerken, „broadband computing and mobile telephony“ [Easterling 2016: 17], und Institutionen (z. B. die für internationale Standardnormen zuständige ISO) sowie von als infrastrukturellem Raum verstandenen Freihandelszonen, die alle jenseits staatlicher Einflussnahme oder politischer Kontrolle existieren. Damit erweitert sie das Verständnis und die Basis, die Infrastrukturen für Alltag und Gesellschaft bilden, um Datenströme, Mikrowellen und die Signale von Satelliten sowie die damit verbundenen Standards, Einrichtungen und Führungsstile, die diese steuern [Easterling 2016: 11; Easterling 2015: 68].
Ihre Analyse verbindet Easterling mit Überlegungen, die sich den Bedingungen eines kritischen Aktivismus widmen, der den untersuchten globalen Verschiebungen und neuen Konfigurationen von Infrastruktur adäquate Strategien entgegensetzen könnte. Dabei spielen in ihrer theoretischen Konturierung sowohl der Begriff der „active forms“ als auch der „disposition“[10] eine gewichtige Rolle. Infra-Strukturen in diesem erweiterten Sinne sind aus ihrer Sicht Handlungen evozierende und determinierende Abläufe, Programme, Beziehungen zwischen Objekten, die als aktive Formen der Gestaltung von Gesellschaft und Ökonomie gesehen werden müssen. Sie sind fluide und befinden sich in stetiger Veränderung, Anpassung – ähnlich, wie es auch Schabacher beschrieben hat – und erfordern ebensolche Strategien des „hacking“.
Easterlings Analysen, die sich gegen ein vorherrschendes Verständnis von Architektur und Infrastruktur im urbanen Raum (als Objektform) wenden, haben in den letzten Jahren große Beachtung gefunden. Inwiefern sie für das Verständnis kultureller Infrastruktur – wie es sich vor allem in den im Folgenden skizzierten Texten, Überlegungen und Projekten spiegelt – relevant sind, ist zu diskutieren. Nachzugehen wäre der Frage, in welches Verhältnis die Analyse der Dispositionen globaler Infra-Strukturen dieser neuen Art und die Analyse von Einrichtungen treten sollte, die von eher lokal oder regional begrenzter Reichweite sind, deren Regeln gleichwohl in übergeordneten Zusammenhängen fungieren. Orte und Räume, vernetzt auf verschiedenen Ebenen, die der Produktion, Distribution und Rezeption von Kunst und Kultur dienen und dem auf einen physischen Ort bezogenen gemeinschaftlichen Agieren, sind auch im Alltag der Akteur:innen nicht getrennt von Plattformen, social media, Datenströmen und Satelliten sowie damit operierenden kulturellen und künstlerischen Projekten/Produkten. Wie können diese unterschiedlichen, sich überlappenden Felder von Infra-Strukturen in Relation zueinander untersucht werden?
Zwischenstand – Fragen
Als Zwischenstand der Beobachtungen sind aus meiner Sicht für die Präzisierung solcher Fragen an kulturelle Infra-Strukturen folgende Aspekte interessant:
- Die Variabilität des Begriffs Infra-Struktur(en) in Bedeutung und Gebrauch zeigt sich in den verschiedenartigen Dimensionen, in denen sie gedacht und untersucht werden (können). Das reicht von einer Praxis von unten, die in städtischen Räumen lebensnotwendige Rahmenbedingungen (Grundversorgung) selbst errichten und dabei bereits das Ineinander von materieller Seite, Zugang zu Ressourcen und Gemeinsinn, sozialen Beziehungen praktizieren bis hin zu den global implementierten infrastrukturellen Räumen, von denen Keller Easterling spricht.
- Die traditionellen Infrastrukturen des Verkehrs, der Mobilität, des Transports und der Logistik, die um die Zugänge zu lebenswichtigen Ressourcen wie Wasser, Elektrizität, Abfallbeseitigung, Gesundheitsvorsorge, Bildung und Kultur erweitert sind, werden mit der Entwicklung digitaler Netze, Plattformen, Kommunikationsmedien erneut um zentrale Elemente erweitert bzw. neu konfiguriert. Deren Verhältnisse zueinander und die Komplexität ihrer Verbindungen sind in Analysen auch von kulturellen Infra-Strukturen in Rechnung zu stellen.
- Infrastrukturen werden erst in Nutzung und Gebrauch als solche realisiert. Daraus folgt unter anderem, dass nicht allein materielle und physisch manifeste Einrichtungen, Bauten und Gebäude sowie deren Ausstattungen und Platzierungen zu beobachten sind, sondern auch die manifest geregelten wie informell praktizierten Verfahrensweisen, sozialen Beziehungen und Entscheidungsmacht, aber auch die nicht nur per digitalen Medientechniken betriebenen Verbindungen in Netzwerken.
Auf diese Aspekte und sich daraus ergebende Fragen an das Verständnis und die Analyse kultureller Infrastrukturen und infrastruktureller Kritik in Kunst und Kultur möchte ich im weiteren Verlauf des Textes zurückkommen.
II. Kulturelle Infrastruktur – Infra-Strukturen für Kunst und Kultur
Ein kulturpolitischer Diskurs in (West-)Deutschland
In der westdeutschen Diskussion um – auch von den sozialen und politischen Bewegungen Ende der 1960er-Jahre inspirierte – Konzepte einer neuen Kulturpolitik[11] spielte der Begriff der Infrastruktur noch keine hervorgehobene Rolle, wohl aber die grundlegend damit verbundene Idee einer qualitativen Erweiterung kultureller Einrichtungen und deren Zugänglichkeit.
Der so genannte weite Kulturbegriff, der den Kanon der traditionellen Künste und ihrer Institutionen in der Förderung überschreiten und ergänzen wollte, war zugleich – wie von Akteuren des Feldes beschrieben wird – Modernisierungspolitik [Sievers und Pöhl 2015: 18].
In den 1970er-Jahren waren es vor allem aktive Kulturdezernenten wie Herrmann Glaser in Nürnberg und Hilmar Hoffmann in Frankfurt/Main, die diese Konzepte entwarfen, in Teilen praktisch erprobten und wie Hoffmann unter dem Titel Kultur für alle [Hoffmann 1981] publizierten. „Kultur für alle“ sollte unter anderem Veränderungen aufgreifen, die sich in den Bewegungen um und der Praxis mit selbstverwalteten Kunst-, Kultur- und Jugendzentren in den 1970er- und 1980er-Jahren manifestierten. Besetzungen und Umnutzungen von urbanem Leerstand schafften eine Basis für die Veränderung kultureller Infra-Strukturen in den folgenden Jahrzehnten (KOMM Nürnberg 1973[12]; Stollwerck Köln 1980[13]; Kampnagel Hamburg 1982/83[14] u.v.a.). Dazu gehörte auch die Entwicklung einer sogenannten freien Theater- und Kunstszene, die sich jenseits der bestehenden Institutionen organisierte. Und es gehörte dazu eine Öffnung hin zu popkulturellen Formaten und die Zusammenarbeit mit Konzertveranstalter:innen der Independent-Musikszene.
Die Parallelisierung und Verbindung dieser beiden Entwicklungsstränge in der westdeutschen Kulturszene der Zeit wären als Teil einer infrastrukturellen Verschiebung zu beschreiben, die ein Gegen- und Ineinander einer (infrastrukturellen) Praxis von unten mit staatlich geförderter Regulierung und Öffnung/Vervielfältigung (also Institutionalisierung) kultureller Einrichtungen zusammendenkt.[15]
In den folgenden beiden Jahrzehnten – so beschreibt es Bernd Wagner – setzte sich der Begriff „kulturelle Infrastruktur“[16] nach und nach durch und wurde zuletzt offiziell zur Kategorie deutscher Kulturpolitik, indem er einen zentralen Stellenwert im Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Kultur in Deutschland einnimmt [Wagner 2010: 13f; Enquete-Kommission 2008]. Dabei spielte – laut Wagners Einschätzung – eine wichtige Rolle, dass er im Einigungsvertrag ausdrücklich benutzt (Art. 35.7) und dazu festgehalten wurde, dass die „kulturelle Substanz“ des Gebietes der früheren DDR bzw. der neuen Länder „keinen Schaden nehmen darf“ (Art. 35.2).[17]
Allerdings wird im Rückblick deutlich, dass die Teile der kulturellen Infrastruktur, die auf der spezifischen Politik der DDR im Kunst- und Kulturbereich beruhten – also vor allem das Netz von Kulturhäusern –, keinen Platz in der aktualisierten deutschen kulturellen Infrastruktur fanden:
Was nun das Verständnis von „kultureller Infrastruktur“ im Kontext des Berichts der Enquete-Kommission angeht, hat Oliver Scheytt, der selbst Mitglied der Kommission war, in verschiedenen Texten zu Methoden der Kulturpolitik den Zusammenhang zwischen der juristischen Diskussion einer staatlichen „Pflichtaufgabe Kultur“, der Diskussion um „kulturelle Grundversorgung“, die seiner Beschreibung nach vor allem im Hinblick auf kulturelle Bildung praktische Relevanz entwickelt hat, und dem Begriff der kulturellen Infrastruktur erläutert [Scheytt 2010: 28]. Damit werden – so schreibt er – nicht nur staatliche bzw. kommunale Einrichtungen beschrieben, sondern „Stiftungen oder andere Institutionen der Zivilgesellschaft sowie die Anbieter der Kulturwirtschaft erfasst [...] demnach die Angebote aller Kulturakteure an den Einzelnen“ [Scheytt 2010: 38].
Die grundsätzliche Verantwortung des Staates, „der öffentlichen Hand“, für den Erhalt der kulturellen Infrastruktur wird „durch die Bereitstellung von Ressourcen und die Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen (kulturelle Ordnungspolitik) wahrgenommen.“ [Scheytt 2010: 38] Festlegung von Standards und Qualitätssicherung werden dann weiter als mögliche Orientierung für diese Aufgabe angeführt.[19]
Die Enquete-Kommission definiert in ihrem Bericht unterschiedliche Handlungsfelder, für die je eigene Infrastrukturen zu unterstützen und aufzubauen wären: kulturelles Erbe, Künste, kulturelle Bildung, weitere kulturelle Aktivitäten (bürgerschaftliches Engagement), Medien (2.5.4). Zwei Dinge erweitern das traditionelle Verständnis von Kunst und Kultur: die Tastsache, dass Medien als Handlungsfeld gelistet sind, wiewohl damit zunächst und vor allem die öffentlichen Rundfunkanstalten gemeint waren. Zudem wurde mit der Nennung „weitere kulturelle Aktivitäten“ ein sehr vager Versuch gemacht, Initiativen jenseits bestehender Kulturinstitutionen einzubeziehen – was unter anderem als eine Reaktion auf die vielfältigen Bewegungen zu alternativer (urbaner) Kunst und Kultur der vorangegangenen Jahrzehnte verstanden werden kann.
Dem Kontext entsprechend, in dem diese Beobachtungen und Definitionen von „kultureller Infrastruktur“ entstanden sind, stehen einerseits Erhalt und Stabilität und andererseits das staatliche Handeln und dessen Bedingungen im Vordergrund. Ein solches Verständnis von „kultureller Infrastruktur“ ist einseitig auf das Feld der Kulturpolitik bezogen und von dort aus formuliert. Es muss ergänzt, überschrieben und verändert werden, insbesondere in Relation zu den im ersten Teil dieses Textes dargestellten Überlegungen.
Dazu gehört zunächst und grundlegend die Bedeutung des Prozessualen von Infra-Struktur, die sich nicht allein daraus ergibt – wie ich es von Schabacher zitiert habe –, dass es eines kontinuierlichen und aufwendigen Arbeitsprozesses bedarf, um Infra-Strukturen zu erhalten und zu stabilisieren, sondern auch dadurch, dass sich eine „Praxis von unten“ im Bereich von Kunst und Kultur entwickelt hat, die das Gefüge von (in diesem Fall nationaler) kultureller Infra-Struktur verändert. Die Mikrogeschichten dieser Verschiebungen sind wichtiger Bestandteil einer aktuellen Form der Untersuchung, um so auch das erweiterte Feld der Akteur:innen, ihrer Beziehungen untereinander, ihre Differenzen und Begrenzungen, ihre Netzwerke und ihr Verhältnis zu Institutionen und Institutionalisierungen beschreiben zu können.
Viele Orte, unterschiedliche Akteur:innen und Strukturen: Kunsthäuser, Kulturzentren, alternative Räume in Selbstverwaltung
Im vorigen Abschnitt habe ich darauf hingewiesen, dass – wenn wir die Integration des Begriffs „kulturelle Infrastruktur“ in die deutsche Kulturpolitik als ein Zeichen für ein erweitertes Kulturverständnis und eine Öffnung von Institutionen lesen wollen/sollen – es in der Analyse von damit angezeigten Verschiebungen darauf ankommt, das Gegen- und Ineinander von infrastruktureller Praxis von unten und institutionalisiertem, staatlichem Handeln in Rechnung zu stellen. Daraus ergibt sich unter anderem die Sinnhaftigkeit (und auch ein Auftrag), die Geschichte dieser alternativen Orte und Häuser, Einrichtungen und Projekte genauer zu untersuchen. Zum einen sollten die räumlichen Bedingungen, unter denen Um- und Zwischennutzung (auch Besetzung) stattfindet, beschrieben und nachgefragt werden, welcher Leerstand und wo situiert besetzt wurde, welcher Zustand von urbaner Entwicklung eine Basis für die Möglichkeiten solcher Praxis von unten bildete – etwas, das zum Beispiel Martin Beck in seiner Recherche zu alternativen Orten im New York der 1960er- und 1970er-Jahre [Beck 2002] oder John Hoberman im Kontext der Ausstellung Rituals of Rented Island [Hoberman 2013] thematisierten.[20]
Zum anderen wäre zu untersuchen, was Erfahrungen mit den inneren Infra-Strukturen dieser alternativen Orte und Projekte (Stichworte Selbstverwaltung, Basisdemokratie, Bildung und Wissen etc.) für die heutigen, anders konturierten Auseinandersetzungen in und gegen die Verfasstheit der inneren Strukturen von Kunstinstitutionen aller Art ergeben könnten. Vielleicht ließe sich auf diese Art und Weise, in der Untersuchung der Differenzen und Gemeinsamkeiten, präziser beschreiben, welche Verfahren in die aktuellen „Aushandlungsprozesse“ eingehen, wie sie transparent und im Sinne einer agonistischen Öffentlichkeit [Mouffe 2014; Mouffe 2002] entwickelt werden können.
Im Kontext unseres Forschungsprojekts haben wir solche Aspekte in den Fallstudien zu den Produktionshäusern der performativen Künste thematisiert, indem wir ihre Vorgeschichte in genau solchen infrastrukturellen kulturellen Praktiken von unten beschrieben und ihre besondere Form der Institutionalisierung im Verhältnis von künstlerischen Raumpraktiken und kuratorischen Programmierungen gezeigt haben. Wir werden dieses Verhältnis auch in der Untersuchung einer erprobten Wiederaneignung des Kulturpalastes Bitterfeld[21] fokussieren bzw. in die Beobachtung der weiteren Initiativen zur Aktivierung der kulturellen Infrastruktur in Bitterfeld-Wolfen in Kooperation mit Künstler:innen und Hochschulen der umgebenden Städte einbeziehen.
Urbane Praxis, wie sie hier von einigen ihrer Akteur:innen vorgestellt wird, können wir in diesem Zusammenhang ebenfalls als eine Bewegung zur Veränderung und Verschiebung von kultureller Infra-Struktur verstehen, sowohl in einem urbanen Zentrum, wie es mit dem Haus der Statistik der Fall ist, aber auch an der Peripherie einer Großstadt mit dem Projekt station urbaner kulturen in Hellersdorf. Fragen, die sich hier anschließen, sind: Inwiefern sind einzelne Projekte und Initiativen untereinander verbunden und arbeiten so an einem Netzwerk neuer, erweiterter, anders motivierter kultureller Infrastruktur? Wo werden in einem solchen Netz Knotenpunkte geschaffen, an denen materielle Einrichtungen kultureller Infra-Struktur den Zugang zu verschiedenen Ressourcen für viele ermöglichen? Das Projekt „Making Cultural Infrastructure“, von dem im nächsten Abschnitt in kurzer Übersicht die Rede sein wird, hat solche Fragen exemplarisch und systematisch über mehrere Jahre untersucht.
Dass Netzwerke verschiedener Häuser/Akteur:innen in unterschiedlichen Feldern der Kunst und Kultur als Teil von Infra-Struktur auch überregional, europaweit und international
agieren, sei mit zwei Beispielen erwähnt: Zum einen haben sich die deutschen Produktionshäuser der performativen Künste zum Bündnis Internationale Produktionshäuser zusammengeschlossen und nicht nur einen Internetauftritt mit kooperativer Selbstdarstellung lanciert, sondern arbeiten auch in thematischen Projekten zusammen, für die sie gesonderte Förderung bekommen. Eines dieser Projekte oder Projektreihen beschäftigt sich unter dem Titel „Claiming Common Spaces“[22] in dem hier beschriebenen erweiterten Verständnis gerade mit Fragen von Infra-Strukturen. Zum anderen – und da geht es um eine andere Dimension und Reichweite – haben sich in der TEH (Trans Europes Halles) zunächst europaweit, inzwischen aber darüber hinaus Kulturzentren zusammengeschlossen, deren Vertreter:innen sich jährlich treffen und die sich so verstehen: „We are a network of grassroots cultural centres with members in 40 European countries. We convert abandoned buildings across Europa into vibrant centres for arts and culture. By doing so, we transform our communities, our neighbourhoods, our cities.“[23]
Dass solche Netzwerke auch als Teil von kulturellen Infra-Strukturen verstanden werden und insofern in deren Untersuchung einbezogen werden müssen, macht anhand eines solchen Beispiels auch deutlich, dass Infra-Strukturen nicht (allein) auf die Ebene nationaler Kulturpolitik zu reduzieren sind.[24] In einer Analyse, die eben auch die sehr unterschiedlichen Begründungen, Verfahren, materiellen, finanziellen und sozialen Ressourcen verschiedener nationaler kultureller Infra-Strukturen herausarbeiten und das Verhältnis der Praxis von unten zu kontrollierender staatlicher Erhaltung beachten muss, können dann auch erst die enormen Differenzen im internationalen Maßstab sichtbar werden.
„Making Cultural Infrastructure“ – Forschungen der Londoner Plattform Theatrum Mundi
Theatrum Mundi ist eine Forschungsplattform und -organisation, die 2012 an der London School of Econonics (LSE)/Cities[25] von Richard Sennett und Adam Kaasa gegründet wurde und ein Netzwerk von Stadtforscher:innen und Künstler:innen zu einer transdisziplinären Diskussion und gemeinsamem Arbeiten über das Verhältnis von Kultur, Öffentlichkeit und städtischem Raum einlud. Die Verbindung von Forschung und künstlerischen Experimenten, die sich mit der Stadt und den Produktionsbedingungen in den verschiedenen Künsten beschäftigt, steht im Zentrum deren Arbeit. Bis zum Oktober 2017 war Theatrum Mundi an der LSE angebunden,[26] danach wurde das Zentrum als gemeinnützige Organisation selbständig.
Im 2017 veröffentlichten Bericht Making Cultural Infrastructure resümieren sie die bis 2016 geleistete Forschungsarbeit unter der Frage: „Can we design the conditions for culture?“ und luden insgesamt 60 Künstler:innen, Architekt:innen und Forscher:innen aus der Londoner Kulturszene ein, sich mit den infrastrukturellen Bedingungen von Kunst und Kultur auseinanderzusetzen [Bingham-Hall und Kaasa 2017: 3].
Der Bericht selbst umfasst drei Teile, die sich aus unterschiedlicher Perspektive dieser Frage nähern: Der erste Teil stellt unter dem Titel „Inhabiting Infrastructure“ Erfahrungen von Künstler:innen mit und Anforderungen an die Nutzung von Infrastrukturen für künstlerische Produktionen ins Zentrum; der zweite Teil („Designing Infrastructure“) nimmt dann die Entwurfs- und Planungsperspektive auf und fragt nach architektonischen Praktiken in London, wozu vier Büros/Gruppen zu konzeptionellen Entwürfen eingeladen wurden[27]; der dritte Teil („Conceptualising Cultural Infrastructure“) widmet sich einer kritischen Analyse des Begriffs und verbindet die Vorschläge und Projekte der ersten beiden Teile mit Überlegungen zu politischen und sozialen Kontexten [Bingham-Hall und Kaasa 2017: 7]. Die gliedernden Stichworte des dritten Teils lauten „Value, stability, determinacy, visibility“ [Bingham-Hall und Kaasa 2017: 5].
Ohne dass die Ergebnisse dieser Studien hier umfassend dargestellt werden können, möchte ich auf einige Aspekte verweisen, die mir für unsere eigene und für weiterführende Forschungsarbeit interessant erscheinen. Die Recherchen zum ersten Teil, die mit Künstler:innen gemeinsam betrieben wurden, richteten sich vor allem auf die infrastrukturellen Bedingungen der künstlerischen Produktion, verstanden als Prozess, der wesentlich von diesen Bedingungen beeinflusst wird. Dass nicht nur die Präsentation, sondern die Produktion als Prozess ins Zentrum rückt, ist eine zentrale Perspektive, die auch die vielfältigen Anforderungen an (Arbeits-)Räume und deren Umgebungen sichtbar macht.[28] Entsprechend betont der Bericht im zweiten Teil „Designing Infrastructure“, dass es eben bei der Bereitstellung von Infra-Strukturen für solche Prozesse gerade nicht um die Ausrichtung der räumlichen Planung auf einen klar definierten Outcome, der mit ihnen verbunden ist, gehen kann, sondern:
In der Beschreibung von Infra-Strukturen als den materiellen, physischen, sozialen und räumlichen Bedingungen, die (künstlerische) Arbeit ermöglichen, referiert der Bericht explizit auf den Begriff disposition, den Keller Easterling in ihren Analysen gesetzt hat [Bingham-Hall und Kaasa 2017: 49]. Die vier Vorschläge, die die eingeladenen Büros entwickelten, wurden in diesem Sinne nicht als Entwürfe für spezifische Gebäude(typen) verstanden, sondern als „a clear argument for spatial strategies that could play out across the city“ und als „ideas of the roles urban planning and design have to play in the creation of conditions for culture“ [Bingham-Hall und Kaasa 2017: 39].[29]
Im letzten und dritten Teil des Berichts werden weitere konzeptuelle Charakteristika kultureller Infrastruktur diskutiert, etwa das Verhältnis zwischen dem Temporären und Permanenten, zwischen Nutzungsweisen und Institutionalisierung, oder auch der Frage nachgehend, wie man Raum schaffen kann für etwas, dessen Nutzung noch nicht definiert ist, und nach den Mindestanforderung an Ausstattung [Bingham-Hall und Kaasa 2017: 57, 59]. In den folgenden Projekten und Jahren hat sich Theatrum Mundi in einer Reihe von vier Fallstudien – den Aspekt von Infra-Strukturen als Disposition für künstlerische Produktion in verschiedenen Feldern und Arbeitsformen weiterführend – mit „Urban Backstages“ beschäftigt.
Die Adaption von Begriffen aus der Theaterterminologie, die in den drei bisher erschienenen Berichten zu den Fallstudien London, Glasgow und Marseille auch die Gliederung bestimmt (Prelude, Setting the Scene, The Stage, The Characters etc.), ist nicht nur eine Referenz an die Bedeutung des Performativen für die Untersuchungen, sondern greift eine analytische Idee aus dem Bereich der „Servicearchitekturen“[31] bzw. der Untersuchung von Infrastrukturen der Logistik auf. Die Autor:innen Susan Nigra Snyder und Alex Wall hatten in der Untersuchung des Zusammenhangs von Stadt, Konsum und Distribution 1998 geschrieben: „Diese Zonen des Tourismus, des Entertainment und des Konsums werden charakterisiert durch eine klare Trennung von repräsentativer Schauseite und dienenden Backstage-Bereichen.“ [Synder und Wall 2012: 84]
In gewisser Weise lässt sich eine solche Beobachtung auch an den repräsentativen Kulturimmobilien [Scheytt, Raskob und Willems 2016] europäischer Städte machen, die als Schauseite das Image von Städten prägen wollen, höchst aufwendig finanziert und unterhaltener Teil kultureller Infrastruktur[32] sind und deren „backstages“ im Allgemeinen unsichtbar bleiben.
Der Reduktion von kultureller Infrastruktur auf Repräsentation und Imagebildung, auf Architekturen als skulpturale Markenzeichen will das Forschungsprojekt „Urban Backstages“ entgegentreten und gerade die anderen Seiten untersuchen, die die grundlegenden Bedingungen für die künstlerische und kulturelle Arbeit als Teil des urbanen (Zusammen-)Lebens bilden.
Jede der drei bisher publizierten Fallstudien dieses Projekts widmet sich einem – auch unter Aspekten der Diversität ausgewählten – städtischen Territorium, das im Hinblick auf seine Geschichte, seine räumliche Anordnung, demografische Aspekte sowie von Gebäuden und Orten, in denen sich „backstages“ entwickelt haben, beschrieben wird. In diese Untersuchungen und Bestandsaufnahmen vor Ort wurden Künstler:innen, Kurator:innen und Designer:innen einbezogen.[34]
Solche Bestandsaufnahmen wären in Zukunft – neben den für die hier erwähnten case studies genannten Aspekten – um das zu erweitern, was Snyder/Wall in einem aktualisierenden Nachtrag zu ihrem Text von 1998 für die „logistische Landschaft“ bereits 2012 festhielten: Durch die digitale Vernetzung und die sozialen Medien beginnen sich die zunächst klar definierten Grenzen zwischen Front–Backstage aufzulösen und in der (temporären) Überlagerung von physischen und virtuellen Teilen von Infra-Strukturen entstehen neue soziale Beziehungen und Arbeitsweisen, -räume.[35]
Diese Entwicklung, die ja inzwischen – durch Projekte und Praktiken, die in der Pandemie ausprobiert wurden, deutlich befördert – künstlerische und kulturelle Produktion in erheblichem Maße erfasst hat, wäre in künftigen Untersuchungen kultureller Infrastruktur in Rechnung zu stellen. Dazu gehören unter anderem die Streamingdienste für klassische Musik, an denen Konzerthallen, Opern und Musiktheater (Bsp. medici.tv, symphony.live) international vernetzt beteiligt sind, indem sie die filmischen Aufzeichnungen ihrer Aufführungen online zugänglich machen, ob für Public Viewing oder im privaten Wohnzimmer. Das spezifische Verhältnis von Aufführungsorten und Wiedergaberäumen, die nicht mehr physisch geteilt werden, zu ihren jeweiligen Rezeptionskontexten ergibt markante Verschiebungen in kultureller Infrastruktur. Ein Forschungssetting müsste ausgearbeitet werden, dass solche Überlagerungen beobachten und beschreiben kann.
Andere (künstlerische) Forschungsprojekte, die im Rahmen von Theatrum Mundi entstanden sind, zeigen, was in meinem letzten Abschnitt als weiterer Gesichtspunkt der thematischen Auffächerung beschrieben werden kann: dass Diskussionen um die Art und Weise, wie Infra-Strukturen Kunst und Kultur bedingen, aber auch determinieren, und wie sie zukünftig zu entwickeln sein sollten, sich ebenso auf die Verfahren, sozialen Beziehungen, den Umgang mit und Zugang zu Ressourcen innerhalb von Institutionen beziehen.
Kulturelle Infrastruktur und/in Institutionen – Fragen an Forschung und kritische Praxis
Die Londoner Kunstforscherin Susannah Haslam war 2020 Stipendiatin von Theatrum Mundi mit einem eigenen Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse sie 2021 unter dem Titel Infrastructuring. Four Conservations on Cultural Infrastructures veröffentlicht hat. Ihr zentrales Thema ist das Verhältnis zwischen Institution und Infrastruktur, indem sie fragte:
Eine solche Fragestellung wendet sich nicht nur dem Verhältnis von Aktivist:innen und Institutionen zu,[36] sondern versteht explizit die internen Verfahren, Methoden, Entscheidungen und sozialen Beziehungen als Infrastruktur von Kunst- und Kulturinstitutionen. Das lässt sich verbinden mit den Überlegungen, die für einen notwendigen Wechsel von der institutional critique zur infastructural critique[37] plädieren.
Wie können die in (Kunst-)Institutionen Arbeitenden die bestehenden, kritisch zu reflektierenden internen Verfahren und Beziehungen – Strukturen also, die die gesamte Arbeit der Institution grundieren – so verändern, dass sie transparent und offen sowohl nach innen als auch nach außen werden. Und zum Beispiel fragen – wie es die Autorin im Gespräch mit der am V & A Museum arbeitenden Kuratorin Maneesha Kelly tut: „Shifting to an urban perspective: what are the civic and social responsibilities of museums?“ [Haslam 2021: 42]
Kelly verweist in ihrer Antwort auf die Möglichkeiten von Kurator:innen, innerhalb der Institution Ansatzpunkte für infrastrukturelle Verschiebungen zu schaffen:
Was hier im Dialog als unterschiedliche (innerinstitutionelle) Praktiken der infrastrukturellen Veränderung herausgearbeitet wird, hat die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Marina Vishmidt verschiedentlich als Forderung formuliert:
Entscheidend für ihr Verständnis ist die Überschreibung dessen, was als instituitional critique im Kunstfeld über viele Jahrzehnte von Künstler:innen entwickelt wurde und inzwischen zum Bestandteil der Institution selbst geworden ist, mit dem Ziel, es als kritische Praxis zu aktualisieren. Das kann sowohl kuratorische Projekte, die die infrastrukturelle Verwobenheit der Institution in Praktiken der enteignenden Objekttransfers (extraction) zum Gegenstand machen, als auch Präsentationsweisen und Anordnungen etwa im musealen Kontext (display) [von Bismarck 2022: 107–121] umfassen, aber eben auch – wie mit Haslam und Vishmidt gezeigt – auf die innere ‚Verfasstheit‘ und die internen Arbeitsprozesse fokussieren.
Infrastructure is that what enables. That is the baseline.“ [Petrossiants/Vishmidt, Interview 2020: o. S.]
Solche Fragen werden ja mittlerweile auch im Bereich der subventionierten Theaterinstitutionen gestellt, interne Verfahren offengelegt, organisiert, kritisiert, und es werden grundlegende strukturelle Veränderungen in Bezug auf Entscheidungsprozesse, Machtverhältnisse, Verhaltensweisen gegenüber den Künstler:innen und für Arbeitsatmosphären, die gegenseitigen Respekt bezeugen, eingefordert.[38]
Alle diese infrastrukturellen Beziehungen sind auch in anderen Formen von Kunstinstitutionen und -einrichtungen kritisch zu untersuchen und als Bestandteil deren Dispositionen zur Kunstproduktion und -verbreitung bzw. -vermittlung zu analysieren. Wenn ich dieses Panorama unterschiedlicher Zugänge zum Begriff, den Einrichtungen und Beziehungen, die als Infra-Strukturen verstanden werden, passieren lasse, ergeben sich einige Anhaltspunkte für die Komplexität eines Forschungssettings, das kulturelle Infra-Struktur als Erweiterung in diesen Punkten beschreiben kann:
- als Überlagerung von Infrastrukturen oder infrastrukturellen Räumen auf lokaler, nationaler und globaler Ebene und damit verbunden die Frage, wie sie im Verhältnis zueinander genutzt werden und Ressourcen zugänglich machen/determinieren;
- als Verhältnis von infrastruktureller Praxis von unten und der durch staatliche Förderung und Sicherung, durch staatliches Handeln betriebenen Infrastruktur;
- als innere Organisation – Verfahren, Entscheidungsprozesse, Verhaltensweisen und soziale Beziehungen –, die in unterschiedlichen Formen von öffentlich geförderten, staatlichen, privaten oder selbstorganisierten Einrichtungen kulturelle Infra-Strukturen grundieren;
- als diejenigen Parameter von Praktiken und Einrichtungen - wie materielle und finanzielle Ressourcen, Räume und Orte und deren Situierung – die grundlegend für deren Handeln sind, ebenso wie Konzepte und Kontexte der Adressierung von Akteur:innen und die Netzwerke, in denen sie sich bewegen, deren Dimension und Reichweite.