In der Börse, am Hain und im Museum

Friktionen Urbaner Praxis im Ausstellen von Stadtgeschichte

Julia Kurz (Leipzig)

 

 

Wo findet Urbane Praxis überall statt? Mit der Definition der Berliner Initiative URBANE PRAXIS als „künstlerische[m] Handeln aller Sparten, in Bezug auf Stadt, in den Dimensionen des Sozialen, Räumlichen, der Bildung und der Erfindung möglicher Zukünfte (Stadtplanung/Stadtentwicklung)“[1] überall dort, wo Stadt und damit Raum hergestellt wird. Raum wird, wie die Architektursoziologin Martina Löw schreibt, im Handeln geschaffen, als räumliche Struktur. Innerhalb des Raums prägt der

„Modus der Abhängigkeit oder, positiv gesprochen, der Verbundenheit […] die Relationen zwischen Menschen, zwischen Menschen und Dingen und zwischen Dingen. [...] Die Frage, die jede Raumanalyse uns aufgibt, ist, wie Teile des Raums anderen Teilen ermöglichen zu wirken bzw. wie Relationen auf Dritte und Drittes Einfluss nehmen.“ [Löw 2018: 163]

Löw zitiert die Sozialgeografin Doreen Massey, die das Verhältnis von Zeitlichkeit und Räumlichkeit beschreibt, welches Löws Überlegung zugrunde liegt: „If time presents us with the opportunities of change and (as some would see it) the terror of death, then space presents us with the social in the widest sense: the challenge of our constitutive interrelatedness.“ [Massey 2005: 195]

Dieser zentrale Aspekt von Raum als Vehikel von Relationalität in der Zeit ist insbesondere relevant, wenn – wie im Symposium Urbane Praxis geschehen – danach gefragt wird, wie Urbane Praxen Impulse für stadtverändernde Entwicklungen geben können. Denn Raum strukturiert – eingelagert in Institutionen – auch alles nachfolgende Handeln vor [Löw 2015]. Die von Künstler*innen und Stadtaktivist*innen in unterschiedlichen Formaten, in Laboren und experimentellen Interventionen entwickelten Vorschläge für stadträumliche Transformation können nur dann langfristig nachhallen, wenn auch jene Akteur*innen in die Verantwortung genommen werden, die lenkend Einfluss darauf nehmen, wie Räume strukturiert, gestaltet und genutzt werden. Insbesondere öffentliche Institutionen haben diesen Zugriff auf Räume im Sinne einer Dynamisierung in der Zeit und „verwalten“ gleichzeitig mit ihren Archiven und Sammlungen den Zugang zu und Wissen über die bisherige Vorstrukturierung, Besetzung und Prägung dieser Räume.

 

Abb. 1: Nora Frohmann, Zwei Punkte mehr, 2021, Metall, Holz, Lack,
Installation an der Ost-Fassade des Stadtgeschichtlichen Museums.

 

Im Museum

Im nachfolgenden Text möchte ich das Museum als städtische, öffentliche Institution in den Blick nehmen, dabei den Begriff des Raumes in Bezug auf das Museum weiterverfolgen und anhand eines Beispiels diskutieren. Dies ist besonders vor dem Hintergrund des aktuellen Disputs um die Neufassung der ICOM-Museumsdefinition innerhalb des International Council of Museums (ICOM) interessant, der sich unter anderem an der Definition von Raum (engl. space) entzündete. Der 2019 auf der ICOM-Generalversammlung zur Abstimmung vorgelegte Vorschlag für die Neufassung sah folgende, hier in Teilen zitierte Museumsdefinition vor:

„Museums are democratising, inclusive and polyphonic spaces (sic!) for critical dialogue about the pasts and the futures. Acknowledging and addressing the conflicts and challenges of the present, they hold artefacts and specimens in trust for society, safeguard diverse memories for future generations and guarantee equal rights and equal access to heritage for all people. [...]“[2]

Auf Antrag einzelner Vertreter*innen der ICOM Deutschland wurde der Beschluss vertagt, was international wie innerhalb des deutschen Verbandes – ICOM Deutschland wurde ein eurozentristischer Blick und undemokratisches Verhalten vorgeworfen – zu Diskussionen führte.[3] To cut it short: Der Begriff „Raum“ musste letztlich im Sommer 2022 in der verabschiedeten Fassung dem Begriff der „permanenten Institution“ weichen, und damit einem grundverschiedenen Konzept. Der betroffene Passus liest sich nun wie folgt: „A museum is a not-for-profit, permanent institution in the service of society that researches, collects, conserves, interprets and exhibits tangible and intangible heritage.“[4]

In einer die Neufassung begleitenden Online-Mitgliederbefragung der ICOM wurde der Begriff space u.a. neben juristischen auch aus semantischen Gründen ausgeschlossen. Der Begriff sei unspezifisch, vage, ein Modebegriff sowie nicht deutlich, ob virtuell oder physisch gemeint. [Wintzerith 2021: 6] Damit setzte sich im Voting erneut ein westlich begründeter Begriff einer permanenten, legitimierten und legitimierenden Institution durch, was vor allem Vertreter*innen des globalen Südens enttäuschte. Ein großer Teil hatte sich von einer Öffnung der Definition hin zu einer prozessualen, sich pluralistisch und demokratisch positionierenden und mit der Herstellung von relationalen, kritikalen Räumen befassten Institution mehr Handlungsspielraum u.a. auch gegen die eigenen – teilweise undemokratischen – Regierungen erwünscht. Muthoni Thangwa, Development Manager der Nationalen Museen Kenias und Board Member von ICOM, hatte weiterhin auf das Fehlen des Begriffs der Restitution kolonialer Raubkunst in der Neudefinition hingewiesen und betont, dass die Realität die Neudefinition längst überholt habe:

„We are sitting here and debating what should be and what can be a museum, but life and the world and the forces of the current activism in the world, have set in motion a new museum. That new museum exists out there, whether we define it or don’t define it, it is already in motion.“[5]

Ein demokratisches Museum beschreibt z.B. Nora Sternfeld:

„[…] das Museum ist ja weder die Straße der Demonstration noch das Parlament. Es ist allerdings ein politischer Ort […]. Das Museum ist eine öffentliche Institution, die mit der Straße als Raum des Protests und dem Parlament als Versammlungsraum verbunden ist, aber anderes kann und macht. […] Denn als öffentliche Institution gehört das Museum allen – was mehr meint, als dass es bloß allen offenstehen sollte. Ich würde sagen, dass das Museum die Möglichkeit verspricht, sich zu fragen, wer ‚alle‘ sind und wer davon ausgeschlossen bleibt, dass es erlaubt, sich damit auseinanderzusetzen, was geschehen ist, darüber zu verhandeln, was dies für die Gegenwart bedeutet und wie sich davon ausgehend eine Zukunft imaginieren lässt, die mehr ist als bloß die Verlängerung der Gegenwart.“ [Sternfeld 2018: 20f]

Inwiefern Museen in diesem Sinne als relationale Räume und als Orte Urbaner Praxis für den gesellschaftlichen Diskurs Relevanz haben, möchte ich am Beispiel eines künstlerischen Kooperationsprojekts deutlich machen, das von Juni bis September 2021 im Leipziger Stadtgeschichtlichen Museum stattgefunden hat. Auf Einladung des Museums beschäftigten sich Studierende, Meisterschüler*innen und Alumni der Hochschule für Grafik und Buchkunst mit Leipzig, jener Stadt, in der sie leben und arbeiten. Das Stadtgeschichtliche Museum wollte sich mit der Sonderausstellung Kennzeichen L. Eine Stadt stellt sich aus mit Leipziger Identität(en) befassen.[6] Eine zentrale Frage der Künstler*innen war, welche Rolle in diesem Zusammenhang das Museum als Ort (und Raum) der Vermittlung von Inhalten, der Repräsentation sowie des Archivierens und Bewahrens spielt und spielen könnte.

Die Beiträge der mehrheitlich internationalen, durch das Studium nach Leipzig gekommenen Künstler*innen machten deutlich, wie herausfordernd die künstlerischen Projekte für eine „permanente“ Institution sein können, deren Strukturen, Abläufe und Anspruch auf Deutungshoheit im eigenen Haus nicht auf die teilweise aktivistischen, teilweise schlicht mit ungewöhnlichen Werkbegriffen arbeitenden Interventionen ausgelegt waren.

Abb. 2 & 3: Ausstellungsgestaltung der Ausstellungsteile 1 und 3,
„Aktionsfläche: Beyond the L“ der HGB.

 

 

In der Börse

So verwies ein Projekt auf das bisher auch im Stadtgeschichtlichen Museum wenig bearbeitete Thema der kolonialen Vergangenheit Leipzigs, deren Erforschung bisher mehrheitlich durch zivilgesellschaftliche Initiativen erfolgte. Die im Rahmen des HGB-Projektes entstandene Videoperformance Until one of us makes a sound des brasilianischen Video- und Performancekünstlers Valério de Araújo Silva wurde als Installation in der Leipziger Alten Handelsbörse gezeigt. Das vom Stadtgeschichtlichen Museum betreute, zentral gelegene barocke Gebäude wird heute hauptsächlich für Veranstaltungen und Vermietungen (u. a. für Hochzeiten) genutzt. In seiner Arbeit nimmt de Araújo Silva Bezug auf den weltweit wie auch in Leipzig entstandenen kolonialen Welthandel. In der Börse wurden nach deren Eröffnung 1687 zwar keine Waren aus den viel später entstehenden Kolonien des Deutschen Reiches gehandelt, wohl aber Kakao aus der portugiesischen Kolonie Brasilien, dem Herkunftsland de Araújo Silvas.[7] Die Videoperformance beschreibt den Kampf eines queeren POC-Körpers (Person of Color) aus dem globalen Süden um Selbstbehauptung. Die offensichtlich aus dem Leipziger Stadtraum entnommenen Pflastersteine, die auf den historischen Fliesen der rundum verglasten Börse auslagen, zitierten den unwahrscheinlichen Moment einer Demonstration auf der Straße. De Araújo Silva beschreibt das Werk als eine politische Intervention, die das Publikum und die Öffentlichkeit einlädt, an diesem persönlichen und öffentlichen Schlachtfeld teilzuhaben. Diese bisher noch nicht erfolgte Kontextualisierung der Räumlichkeiten wurde informiert durch die Forschung der Leipziger AG Postkolonial, einer Initiative junger unabhängiger Wissenschaftler*innen.

Eine Kooperationspartnerin der AG, das ehrenamtliche aktivistische Bündnis Colonial Memory: ReTelling DOAA leistete kurze Zeit später weitere wertvolle Forschungs- und Ausstellungstätigkeit im Stadtgeschichtlichen Museum. Im Rahmen der Feier zum 125. Jubiläumsjahr der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung (STIGA) 2022 hatte das Museum das Bündnis eingeladen, in die Dauerausstellung des Museums zu intervenieren.[8] Die Gruppe forscht zur Deutsch-Ostafrikanischen Ausstellung (DOAA), die als Teil der STIGA 1897 47 Ostafrikaner*innen zur Schau stellte und rassifizierte. Im durch die Stadt gesetzten Themenjahr war dieser Aspekt vorerst nicht fokussiert worden und die STIGA wurde beschrieben als „eine Großveranstaltung, die — angelehnt an große Weltausstellungen – vor 125 Jahren ein Millionenpublikum im Herzen Leipzigs in ihren Bann zog …“ Weiter steht dort: „Die STIGA war aber nicht nur Leistungsschau, Volksfest und massentouristisches Ziel, sondern auch Plattform für wirtschaftliche, kulturelle oder politische Themen sowie für ambivalente Auseinandersetzungen mit Vergangenheit und Zukunft, Tradition und Innovation, Heimat und Fremde oder Realität und Fiktion.“[9] Diese mit Ambivalenz, Heimat und Fremde massiv veruneindeutigende Beschreibung der DOAA wurde von Colonial Memory: ReTelling DOAA im Zuge der Vorbereitungen stark kritisiert, wodurch sich verschiedene städtische Kooperationen mit dem Bündnis, wie die oben genannte Intervention, ergaben und städtische Institutionen, ob eines Bewusstseins über die eklatante Lücke in der eigenen Auseinandersetzung externe Beiträge dankbar in den Veranstaltungskalender zum Themenjahr aufnahmen. Tatsächlich gehört ein Inhalt wie dieser natürlich dauerhaft in die Ausstellung.

Am Hain

Verortet in einer Ausstellung in einem Stadtgeschichtlichen Museum, war es den künstlerischen Positionen des HGB-Projektes mehrheitlich ein Anliegen, aus der Gegenwart der Stadtgesellschaft zu sprechen und gleichsam aktuelle Praktiken des Museums in den Blick zu nehmen. Die Medienkünstlerin Deborah Jeromin greift mit der Postkartenserie Richard ist Leipziger (2013/2021) die Rolle des Stadtgeschichtlichen Museums als stadt- und kulturpolitischem Player in der Diskussion um die kontroverse Figur des 1813 in Leipzig geborenen Komponisten Richard Wagner und die Entstehungsgeschichte des zu seinen Ehren erbauten Richard-Wagner-Hains auf.

Abb. 4: Deborah Jeromin, Richard ist Leipziger, 2013/2021,
Postkarten, 3 Motive, 14,8 x 10,5 cm.

 

Im Frühjahr 2021 hatte das Museum in Kooperation mit dem Richard-Wagner-Verband ein Natursteinrelief des Bildhauers Emil Hipp (1893–1965) angekauft, einen Teil des von Hipp 1933 entworfenen monumentalen Richard-Wagner-Denkmals, das eine Kombination aus städtebaulicher Architektur und Bildhauerei darstellte. Um den zentralen Denkmalblock sollte die Anlage von einer 430 Meter langen und 3 Meter hohen Mauer eingerahmt werden, dessen Reliefs mit Szenen aus den Wagner-Opern bestückt wurden. Die Grundsteinlegung des Hains übernahm am 6. März 1934 Reichskanzler Adolf Hitler persönlich. Die Leipziger Kunsthistorikerin Monrad Møller beschreibt den Tag wie folgt: „Anwesend waren Ehrenstürme der SS und SA, Bannerträger der NSDAP, mehrere tausend Zuschauer. Ein mit 1600 Sängern besetzter Chor sang unter anderem den Halleluja-Chor aus Georg Friedrich Händels Oratorium ‚Der Messias‘. […] Die Grundsteinlegungsfeier diente Hitler [...] als ideale Plattform seiner Selbstinszenierung als ‚Führer‘.“[10]

Monrad Møller betont weiter, dass es sich mit dieser Inszenierung bei den Plänen nicht allein um die Umsetzung eines Denkmals für eine in der Stadt geborene Künstlerpersönlichkeit handelte, sondern dass das „Richard-Wagner-Nationaldenkmal des Deutschen Volkes“ als Stätte für die Massenpropaganda der Nationalsozialisten vorgesehen war, die aufgrund des Krieges letztlich nicht fertiggestellt wurde.

 

Abb. 5: Deborah Jeromin, Richard ist Leipziger, 2013/2021, 2. Motiv,
Reproduktion einer originalen, historischen Postkarte.

 

Die Bildvorderseite wurde nicht mit reproduziert, das originale Sütterlin auf der Rückseite wurde von der Künstlerin in lateinische Schreibschrift übertragen:

Liebe Lucia und Alle! Sende dir recht herzl. Grüße. Erika, Sigfried haben heute Adolf Hitler gesehen. Nur ich nicht. Bin nicht in die Stadt gekommen. Es soll tüchtiges Leben herrschen. Erika ist im B.D.M. Damit du auch etwas von der Rich. Wagner Feier hast zum Andenken diese Karte. Grüße bitte Alle auch dein Woltersdorf. Mit Heil Hitler grüßt dich
Dora u. Kinder

 

Vorderseite:

DIE FEIRLICHE GRUNDSTEINLEGUNG zum Richard Wagner-National-Denkmal des deutschen Volkes. Neben Reichskanzler Adolf Hitler Frau Winnifred Wagner. Ehrengäste: v.l.n.r Paul Letz von Rübenach, Franz von Papen, Carl Friedrich Goerdeler, Martin Mutschmann, Joseph Goebbels
 

Vor diesem Hintergrund erscheint es verharmlosend, wenn Emil Hipps Arbeiten im Zuge des Ankaufs allein als typisch für den Klassizismus eingeordnet werden, „den wir in dieser Zeit haben, [… d]er sich an antiken Vorbildern orientiert, und die jetzt eben in diese deutsche Mythologie übersetzt“,[11] wie es der Vorstand im Wagner-Verband Leipzig Helmut Loos formulierte. Die Kunsthistorikerin Monrad Møller widerspricht dem:

„Erstens hatte Hipp seinen Entwurf den Wünschen Hitlers entsprechend zu verändern, das Wagner-Denkmal wurde somit per se zu einem nationalsozialistischen Monument; […] Zweitens formten Künstler wie Hipp das NS-Kunstideal überhaupt erst mit. ‚Zeittypisch‘ waren um 1930 auch Kubismus, Surrealismus, Dadaismus, Futurismus – Stilrichtungen, die das NS-Regime zutiefst diffamierte. [… Es] galt, das starke, heldenhafte Körperideal zu kultivieren, so wie es auch Hipp in seinen Reliefs für das Wagner-Denkmal tat.“ [Monrad Møller 2021: o. S.]

Bereits 2013 hatte Deborah Jeromin zu diesem Themenkomplex mit einer Intervention am Leipziger Richard-Wagner-Hain Aufsehen erregt, als sie dort ein das städtische Design nachahmendes Bauschild mit der Ankündigung des Bauvorhabens „Richard-Wagner-National-Denkmal“ aufstellte. Jeromins Intervention versuchte damals anlässlich der Feierlichkeiten um Wagners 200. Geburtstag dessen Rezeption im Nationalsozialismus zu thematisieren, da die Stadt Leipzig in der Imagekampagne „Richard ist Leipziger“ Wagner ausschließlich „positiv“ besetzte.[12]

 

Abb. 6: Deborah Jeromin, Bauvorhaben Richard-Wagner National-
Denkmal, 2013. Bauschild am Richard-Wagner-Hain.

 

Abb. 7: Deborah Jeromin, Richard ist Leipziger, 2013. 1. Motiv,
Simulation des errichteten Richard-Wagner-Nationaldenkmals
am Richard Wagner Hain.


Mit Richard Wagners Rezeption im Nationalsozialismus tut sich die Stadt Leipzig seit langem schwer. Wagner, dessen umfangreicher Nachlass an Schriften auch die antisemitische Schmähschrift „Das Judenthum in der Musik“ umfasst, hetzte darin insbesondere gegen seinen einstigen Förderer, den jüdischen Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy.[13] Auch im Jubiläumsjahr „Wagner 22“ zeigte sich der unentschiedene Umgang der städtischen Institutionen mit Wagners Antisemitismus in der Marginalisierung der Thematik, als das Wagners politische Haltung lediglich in externen Vorträgen auf einer Tagung der Leipziger Musikwissenschaft[14] stattfand, während der städtische Fokus auf spektakulären Aufführungen aller 13 Bühnenwerke Richard Wagners lag. Von Seiten der Stadt wurde, als dies im Stadtrat problematisiert wurde, paradoxerweise auf die Aufarbeitung der Causa Wagner in der Dauerausstellung im Mendelssohn-Haus verwiesen, eben jener Institution, die dem Leben und Wirken eines der Opfer des antisemitischen Pamphlets Wagners gewidmet ist. In der 2022 stattfindenden Studioausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums Hochzeitsmarsch mit Rosenkrieg – Wagner und Mendelssohn in Leipzig wird die Beziehung der beiden Komponisten unscharf als „Rosenkrieg“ umschrieben. Wie der Kulturjournalist Stefan Petraschewsky schreibt, gab es jedoch zu Mendelssohns Lebzeiten nie einen offenen Disput zwischen den beiden Leipziger Komponisten. Und so stehen im Ausstellungskapitel „Mendelssohn als Maler, Wagner als Schriftsteller“ Mendelssohns Aquarelle auch neben Wagners Aufsatz „Das Judenthum in der Musik“ – „in einer Art Sonderkapitel in einer anderen Ecke ausgestellt, sozusagen ins Abseits gerückt“.[15]

Nun wurden also Teile des Denkmals zurück in die Stadt geholt, während parallel ein Segment der „kulturhistorisch wertvolle[n] Anlage [des Richard-Wagner-Hains …] erhalten beziehungsweise behutsam denkmalgerecht“ saniert werden soll.[16] Damit stellt sich einmal mehr die Frage nach dem Umgang der Stadt mit diesem Erbe. Im neuerlichen Anlauf könnte eine produktive Auseinandersetzung die Sorge um den Imageverlust ausräumen und Geschichtsbewusstsein ins Zentrum stellen. Wenn Helmut Loos vom Wagner-Verband betont, dass „wir diese besondere Geschichte der Wagner-Rezeption in Leipzig irgendwie dokumentieren [müssen]“,[17] ist dies nur zu befürworten.

Hinsichtlich Hipps Reliefs erscheint es jedoch fraglich, ob es tatsächlich des Originals bedürft hätte, welches zuerst für die Sammlung angekauft und 2023 in der Ausstellung Hakenkreuz und Notenschlüssel im Stadtgeschichtlichen Museum auch ausgestellt wird, um „ein zwiespältiges Kapitel Musikgeschichte“ zu dokumentieren und damit anschaulich zu machen, wie Anselm Hartinger betont. Das Relief wird inhaltlich gerahmt von der lang ausstehenden Fokussierung auf die Rezeption Wagners in Leipzig im Nationalsozialismus, während Hipps Arbeit nur im Begleitkatalog von der bereits zitierten Marie-Louise Monrad Møller ausführlicher eingeschätzt wird [Monrad Møller 2023]. Zu sehen ist kein idealisierter Körper Hipps, sondern der Meistersinger Hans Sachs aus der gleichnamigen Wagner-Oper. Diesem legte Wagner in seiner politisch aufgeladenen Schlussansprache im 3. Aufzug Worte in den Mund, deren Auslegung – ob Ausdruck von Vaterlandsliebe oder militantem Nationalismus – bis heute diskutiert wird.[18] Interessant in der Auseinandersetzung des Museums ist, dass dabei ausschließlich auf die Rezeption, nicht aber die politische Haltung Wagners wie auch Hipps Bezug genommen wird und einmal mehr Werk vom Künstler getrennt wird. Revidiert der Ankauf nicht eine eigentlich bereits 1946 politisch ausgeschlossene und nachvollziehbare Entscheidung? Und gäbe es nicht alternative Wege der Vermittlung, die nicht in einer (Re-)Präsentation der nationalsozialistisch geförderten Bildinhalte Hipps münden müssen?

 

Abb. 8: Ausstellungsansicht „Hakenkreuz und Notenspur. Die Musikstadt im Nationalsozialismus“, Stadtgeschichtliches Museum, 27.01.2023 – 20.08.2023.
Im Vordergrund das angekaufte Relief vom Emil Hipp.

 

Abb. 9: Deborah Jeromin, Richard ist Leipziger 2013/2021, 3. Motiv;
Entwurf zur Umgestaltung des Richard-Wagner-Hains zum Zedernhain.

 

Eine künstlerische Antwort aus dem Projekt der HGB könnte nicht unterschiedlicher sein: Deborah Jeromin schlägt mit dem dritten Motiv ihrer Postkartenreihe eine Renaturierung und Umgestaltung der künstlich geschaffenen Anlage des Richard-Wagner-Hains zum Zedernhain vor. Hieran anschließend planen die Künstlerin und ich derzeit ein kuratorisches Forschungsprojekt, das die Neugestaltung des Richard-Wagner-Hains in einer fiktiven Ausschreibung öffentlich thematisieren und Künstler*innen, Architekt*innen, Historiker*innen wie Kulturwissenschaftler*innen einladen will, polyphone Perspektiven in die bisher von wenigen Verbänden und Institutionen angeleitete Debatte um Wagner und sein nicht nur musikalisches, sondern vor allem auch politisches und architektonisches Erbe der Stadt zu verhandeln. Dies könnte eine Chance zur Entwicklung zukünftiger Konzepte zum Umgang mit den großen Teilen des noch unsanierten Hains hin zu einem Lernort und Labor Urbaner Praxis an authentischer Stelle bedeuten. Eine kritische museale und hier auch Urbane Praxis in einer pluralistischen Stadtgesellschaft könnte sich der Aufgabe annehmen zu vermitteln, zu zeigen, zu versammeln, aber auch genauso entschlossen Inhalte und Objekte nicht zu zeigen, zu versammeln und in den Fokus zu rücken.

Anhand der Beispiele wird deutlich, dass natürlich auch das Museum ein Ort Urbaner Praxis ist, der mit seinen Häusern, der Sammlung und Themensetzungen – wie dargestellt – Ein- und Ausschlüsse produziert, wenn städtische Belange verhandelt werden. Sammlung und Archiv stehen als Material zur Verfügung, sie sind im als relational gedachten Raum stark mit der Gegenwart der Stadtgesellschaft verschränkt. Genau hier liegen das Potenzial wie die Gefahr seiner Öffentlichkeit, wenn Museen einerseits als lebendige Orte weiterentwickelt werden oder aber auch zur Normalisierung von kontrovers zu diskutierenden Inhalten beitragen können. Die Verantwortung als Akteur*in für die Verhandlung potenzieller Zukunft von Stadt sollte nicht aufgrund von Wirtschaftlichkeit, aus Marketinggründen oder Sorge vor Konkurrenz und niedrigen Besucher*innenzahlen aus dem Blick verloren werden.[19] Museale Räume mit Löw und im Sinne Sternfelds sind vor allem Möglichkeitsräume, in welchen auf unterschiedliche Weise anders und aus vielfältigen Perspektiven immer wieder neu nachgedacht werden kann und vor allem auch marginalisierten Themen Raum verschafft werden sollte. Dieses Potenzial bietet sich allein schon thematisch an, wenn, wie in der Ausstellung Kennzeichen L, sich „erstmals [an] eine[r] Gesamtschau der verbindenden Elemente wie der heißen Streitthemen der Leipziger Mentalität“ versucht werden soll. Ganz in diesem Sinne produzierten die geladenen, reflexiv-kritischen Kunstprojekte wahrlich viel Reibung und damit Bewegung, dies jedoch vor allem hinter den Kulissen des Museums, wenn die Positionen auf ihrer Autonomie bestanden und das Museum herausforderten, sich auch des eigenen Selbstverständnisses und der Strukturen gewahr zu werden. Ein Potenzial, das bisweilen leider als Konflikt interpretiert wurde und in Abgrenzung und Absicherung mündete.

Ein Museum als wichtige Akteur*in der Stadtgesellschaft ist in einer unbequemen Position. Sich solidarisch zu zeigen mit marginalisierten und diskriminierten Positionen müsste konsequenterweise bedeuten, auch die eigene mächtige Position und das Selbstverständnis der eigenen „permanenten“ Institution in Frage zu stellen und sich angreifbar zu machen. Eine konsequent museale Urbane Praxis könnte vielmehr neue, auch strukturelle Allianzen mit denjenigen Positionen eingehen und fördern, die bisher ausgeschlossen waren – sowohl in punkto Sichtbarkeit, wie mit der Initiative ReTelling DOAA geschehen, als auch darüber hinaus hinsichtlich struktureller, finanzieller oder personeller Mittel.

 

 

Literatur und Quellen
Hartinger, Anselm. „Touristenattraktion mit Familienanschluss und Erinnerungsbörse – ein dezentrales Stadtmuseum als Einheit in Vielfalt entwickeln. Eine Problemskizze mit Ausblicken“. In: Matthias Dreyer und Rolf Wiese (Hg.): Den Museumsstandort entwickeln und stärken. Impulse, Strategien und Instrumente. Ehestorf 2020.
Löw, Martina. „Space Oddity. Raumtheorie nach dem Spatial Turn.“ In: sozialraum.de (7), 1/2015, https://www.sozialraum.de/space-oddity-raumtheorie-nach-dem-spatial-turn.php, 22.2.2023.
Löw, Martina. Vom Raum aus die Stadt denken. Grundlagen einer raumtheoretischen Stadtsoziologie. Bielefeld 2018.
Massey, Doreen. For Space. London 2005.
Monrad Møller, Marie-Louise. „Wagner im Schatten. Die Geschichte des Richard Wagner-Denkmals in Leipzig“. In: Leipziger Geschichtsverein e.V. (Hg.). Leipziger Stadtgeschichte. Beucha 2014: 111–162.
Monrad Møller, Marie-Louise. „Das Richard Wagner Nationaldenkmal des deutschen Volkes als NS-Monument“. In: Kerstin Sieblist, Sebastian Krötzsch und Anselm Hartinger (Hg.). Hakenkreuz und Notenschlüssel. Die Musikstadt Leipzig im Nationalsozialismus. Altenburg 2023: 57–63.
Sternfeld, Nora. Das radikaldemokratische Museum. Berlin 2018.
Wintzerith, Stéphanie. Begriffe für die ICOM-Museumsdefinition: Ergebnisse der Online-Mitgliederbefragung von ICOM Deutschland, 27.9.2021.

 

Abbildungen
Abb. 1: Nora Frohmann, Zwei Punkte mehr, 2021. Foto: Leopold Haas
Abb. 2/3: Gestaltung der Ausstellungsteile 1 und 3, Aktionsfläche: Beyond the L der HGB. Foto: Ronny Aviram
Abb. 4: Deborah Jeromin, Richard ist Leipziger, 2013/2021. Foto: Fabian Lehmann
Abb. 5: Deborah Jeromin, Richard ist Leipziger, 2013/2021. Foto: Julia Kurz
Abb. 6: Bauschild am Richard-Wagner-Hain. Foto: Deborah Jeromin
Abb. 7: Deborah Jeromin, Richard ist Leipziger, 2013. Foto: Julia Kurz
Abb. 8: Ausstellungsansicht Hakenkreuz und Notenspur. Die Musikstadt im Nationalsozialismus, Stadtgeschichtliches Museum, 27.1.–20.8.2023. Foto: Julia Kurz
Abb. 9: Deborah Jeromin, Richard ist Leipziger, 2013/2021, 3. Motiv, Entwurf zur Umgestaltung des Richard-Wagner-Hains zum Zedernhain. Foto: Julia Kurz

[1] Urbane Praxis als zukunftsweisender Ansatz, Pressemitteilung AG Urbane Praxis vom 8.9.2020, http://www.rat-fuer-die-kuenste.de/urbane-praxis-als-zukunftsweisender-ansatz/, 20.2.2023.
[2] „ICOM announces the alternative museum definition that will be subject to a vote“, Pressemitteilung ICOM vom 25.7.2019. https://icom.museum/en/news/icom-announces-the-alternative-museum-definition-that-will-be-subject-to-a-vote, 13.10.2022.
[3] In einem als Streitschrift verfassten offenen Brief positionierten sich Mitglieder des deutschen ICOM-Verbands gegen diese Aktion. https://www.openpetition.de/petition/online/offener-brief-an-die-vertreterinnen-von-icom-deutschland, 4.1.2021.
[4] Neufassung der ICOM-Museumsdefinition beschlossen, Pressemitteilung ICOM Deutschland vom 8.9.2022. https://icom-deutschland.de/de/component/content/article/551-neufassung-der-icom-museumsdefinition-beschlossen.html?catid=31&Itemid=114, 13.10.2022.
[5] Seymour, Tom. „What is a museum? Icom finally decides on a new definition“. In: theartnewspaper.com, 24.8.2022. https://www.theartnewspaper.com/2022/08/24/what-is-a-museum-icom-finally-decides-on-a-new-definition, 13.10.2022.
[6] Die Sonderausstellung KENNZEICHEN L. Eine Stadt stellt sich aus wurde vom 16.6. bis 26.9.2021 im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig gezeigt; siehe Ausstellungsdokumentation. https://www.stadtgeschichtliches-museum-leipzig.de/ausstellungen/kennzeichen-l-eine-stadt-stellt-sich-aus/aktionsflaeche-beyond-the-l, 13.10.2022.
[7] AG Postkolonial Leipzig. Station Café Riquet. https://leipzig-postkolonial.de/themen/128-2/, 13.10.2022.
[10] Monrad Møller, Marie-Louise. „Streit um Leipziger Denkmal – Der Schatten über Wagner“. In: Monopol Magazin Online, 9.2.2021. https://www.monopol-magazin.de/wagner-denkmal-leipzig-kontroverse, 13.10.2022.
[11] „Stadt kauft Kunstwerke an. Wagner-Denkmal kehrt zurück nach Leipzig“, Deutschlandfunk Kultur, 11.1.2021. https://www.deutschlandfunk.de/stadt-kauft-kunstwerke-an-wagner-denkmal-kehrt-zurueck-nach-100.html, 13.10.2022.
[12] Die umfangreichen Reaktionen auf das Bauschild wurden von Deborah Jeromin in einem Blog gesammelt: richardwagnernationaldenkmal.blogsport.de.
[13] Wagner, Richard. Das Judenthum in der Musik. Leipzig 1850/1869. https://de.wikisource.org/wiki/Das_Judenthum_in_der_Musik_(1869), 13.10.2022.
[15] Petraschewsky, Stefan. „Hochzeitsmarsch mit Rosenkrieg – Wagner und Mendelssohn in Leipzig, MDR KLASSIK,15.6.2022. https://www.mdr.de/mdr-klassik-radio/klassikthemen/leipzig-stadtgeschichtliches-museum-wagner-mendelssohn-100.html, 13.10.2022.
[16] „Uferterrassen am Richard-Wagner-Hain werden erneuert“, Pressemitteilung Amt für Stadtgrün und Gewässer, 21.4.2022. https://www.leipzig.de/news/news/uferterrassen-am-richard-wagner-hain-werden-erneuert, 13.10.2022.
[17] „Stadt kauft Kunstwerke an. Wagner-Denkmal kehrt zurück nach Leipzig“, Deutschlandfunk Kultur, 11.1.2021. https://www.deutschlandfunk.de/stadt-kauft-kunstwerke-an-wagner-denkmal-kehrt-zurueck-nach-100.html, 13.10.2022.
[18] Schreiber, Wolfgang. „Geniale Frechheit gegen starre Regeln“, 21.6.2018. https://www.deutschlandfunkkultur.de/wagners-oper-die-meistersinger-von-nuernberg-geniale-100.html, 23.2.2023. – Dort heißt es: „Drum sag’ ich euch: / ehrt eure deutschen Meister! / Dann bannt ihr gute Geister. / Und gebt ihr ihrem Wirken Gunst, / zerging in Dunst / das heil’ge röm’sche Reich, / uns bliebe gleich / die heil’ge deutsche Kunst!“ Wagner, Richard. Der Meistersinger von Nürnberg. III. Aufzug. 1868. Libretto Online. https://www.cs.hs-rm.de/~weber/opera/meister/libretto.htm, 22.2.2023.
[19] Dass aufmerksamkeitsökonomische Aspekte für das Stadtgeschichtliche Museum eine Rolle spielen beschreibt der Direktor Anselm Hartinger: „[Es gilt], die insgesamt begrenzten Möglichkeiten des meist kommunalen Trägers mit attraktiven Mitbewerbern aus Bereichen wie Kunst und Naturkunde zu teilen und im Umgang mit dem verfügbaren Museumspublikum sowie hinsichtlich der öffentlichen und medialen Wahrnehmung mit der Präsenz zahlreicher anderer – darunter nicht selten bundes- und landesgeförderter – Institutionen sowie generell der oft übermächtigen Konkurrenz kommerzieller Freizeit- und Kulturanbieter zu rechnen.“ [Hartinger 2020: 105f]