Erinnern als urbane Praxis: Geschichte aneignen, Öffentlichkeit gestalten

Verena Elisabet Eitel (Berlin) und Nadine Kesting Jiménez (Leipzig) 

 

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Im städtischen Raum ereignen sich permanent Überschreibungen von Nutzung und Gebrauchsweisen. Bedeutungszuschreibungen überlagern sich und lösen sich gegenseitig ab. Expertenwissen wird an verschiedensten Orten hervorgebracht, im institutionellen, aber immer mehr auch außerhalb dieses Rahmens als Alltags- oder lokales Wissen, das Urbanes beschreibt und prägt. Damit stellt sich der urbane Raum als ein Konstrukt dar, aus physischen architektonischen Schichten wie Material, Form, Dimensionen oder Verortungen, aber auch narrativen Schichten wie politischen Interessen, funktionalen Nutzungen oder ideologischen Konnotationen, nicht zu vergessen deren interagierende, digitale Dimension.

Das Aufrufen des Vergangenen, das Erinnern als Kultur, ist für die Konstruktion von Stadt, ihrer Identität wie auch die ihrer Bewohner:innen von zentraler Bedeutung. Es ist ein Prozess, der Geschichte erzählt, hinterfragt und im Stadtraum präsent macht. Als identitätsstiftender kultureller Faktor und urbane Praktik kann das Erinnern als Wiederbelebung von Geschichte, Herstellen und Gestalten von Öffentlichkeit, als Kritik an geschichtlicher (Fehl-)Konstruktion verstanden werden, ebenso als Grundlage, um Neues zu verhandeln und auch als eine Form von Partizipation und Aktivismus. Das Potential steckt nicht nur in einer damit einhergehenden Korrektur, sondern auch darin, das Erinnern als Aus- und Verhandlungsprozess selbst zu etablieren. Sich urbane Öffentlichkeit zu teilen, heißt nicht selbstverständlich, an ihr teilzuhaben. Stadtentwicklung im aktuellen Diskurs wird hinterfragt und neu gedacht, um das Bedürfnis nach Mitgestaltung von Bürger:innen zu integrieren.

Wir legen den Fokus auf Erinnerungskultur und betrachten sie als Aus- und Verhandlungsprozess zur Aneignung urbaner Räume als Teil einer kulturellen Infrastruktur. Damit urbane Praxis stattfinden kann, bedarf es eines konkreten urbanen Raumes, an dem sie ausgetragen wird. Der Umgang und die Auseinandersetzung mit diesem ist ausschlaggebend für den Prozess der Aneignung und Aushandlung. Welche Geschichte belegt diesen Ort? Wie nimmt sie Gestalt an? Wer ist an ihrer Erzählung beteiligt und wer nicht? Wie lässt sie sich aktivieren und kritisch befragen?

Im Rahmen unseres Panels zur Tagung Urbane Praxis. Neue Kontexte für kulturelle Infrastrukturen haben wir im Dialog mit vier Wissenschaftler:innen und/oder Kurator:innen Perspektiven auf das Erinnern als Teil von Aushandlungsprozessen urbaner Orte beleuchtet. Wir rücken den Fokus der urbanen Praxis auf künstlerische und institutionelle, sich selbst organisierende und delegierte Prozesse im Umgang mit Geschichte und Erinnerung. Hier werden Praktiken der Aktualisierung, Aneignung, Regenerierung und des Herstellens von Öffentlichkeit immer wieder neu eröffnet. Welche Orte werden besetzt und ausgehandelt? Welche Wissensbereiche gestalten diese Prozesse? An welcher Stelle kommen verschiedene Expertisen zusammen? Über welche analogen und digitalen Kanäle werden diese Prozesse ausgetragen? Welche Schichten werden freigelegt? Die Transformation von urbanen Räumen stellt in diesem neuen Kontext der (multidisziplinären) Stadtgestaltung vielschichtige Anforderungen.

Ausgehend von der Frage nach gegenwärtigen und historischen Strategien der Aneignung – im Kontext kultureller urbaner Räume, ihrer Institutionen und Akteur:innen – werden in vier Statements unserer Panelteilnehmer:innen unterschiedliche Perspektiven aus ihrer Forschung und Arbeitserfahrung eingebracht.

Anhand der architektonischen Rekonstruktion des Nationaltheaters München skizziert Marie-Charlott Schube, wie die Bauaufgabe Theater verschiedene Öffentlichkeiten im urbanen Kontext herstellt, die tatsächlich aber die breite Stadtgesellschaft ausschließen. Die aufgeworfenen Fragen, inwiefern das Theater als Bauaufgabe und in seiner Nutzungspraxis Teil des urbanen Raums ist bzw. sein kann, münden in einem Ausblick auf die aktuellen Aktivitäten rund um das Schauspiel Wuppertal.

Pablo Santacana López bringt im Kontext der performativen Praxis des Reenactments das Erinnern als Verkörperung ein. Am Beispiel von Jeremy Dellers The Battle of Orgreave fragt er nach dem Potenzial der künstlerischen Praxis als Neuaushandlung der Geschichtsschreibung.

Julia Kurz thematisiert anhand der von ihr mitkuratierten Ausstellung Beyond the L im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig die Erinnerungspraktik der Institution Museum als urbaner Aushandlungsort. Sie kritisiert daran ein stark gelenktes identitätsstiftendes Erinnern, das von Leerstellen und Ausschlüssen geprägt ist, und stellt ihm Beispiele eines diverseren Umgangs mit dem kolonialen und antisemitischen Kulturerbe der Stadt Leipzig gegenüber.

Marianna Liosi diskutiert am Beispiel Initiative 19. Februar Hanau, wie sich Öffentlichkeit im urbanen Raum und online herstellt und inwiefern die Grenzen zwischen diesen Sphären zunehmend verschwimmen. Sie legt dar, wie Erinnern (als Trauer und Anklage) Öffentlichkeit herstellt und gestaltet und wie sie sich im Spezifischen der Online/offline-Teilnahme zu einer Form von Aktivismus wandeln kann.

Diese vier Perspektiven zeigen die Diversität der urbanen Erinnerungspraktiken und wie diese Stadtraum zur Diskussion stellen. Es sind künstlerische und kuratorische Handlungen, die es ermöglichen, andere Blickwinkel einzunehmen und Urbanes neu zu verhandeln. Wir bewegen uns zwischen der historischen Praxis der architektonischen Rekonstruktion, die auch heute noch ausgeübt wird; der Faszination, geschichtliche Ereignisse realitätsnah erfahrbar zu machen; der Forderung der geschichtsschreibenden Institution Museum als Diskursraum und der Aushandlung von Erinnern zwischen virtuellem und realem Raum. Die Mitgestaltung urbaner Orte ist geprägt durch die verschiedenen Ebenen, auf denen sich diese Praktiken abspielen.